Zu Günter Grass fällt mir nichts ein – seine Person interessiert mich nicht, sein Alter spielt für mich keine Rolle und ebenso wenig seine längst vergangene Mitgliedschaft in der Waffen-SS. Bezüglich letzterer erscheint es mir geradezu frivol, sie im Zusammenhang mit seinem jüngsten Text zu nennen. Wer möchte gerne an seinen Handlungen als 17jähriger gemessen werden? Natürlich: Das jahrzehntelange Schweigen über die eigene Vergangenheit, während das „Gewissen der Nation“ in anderen eilfertig das Konservative oder Reaktionäre sah und brandmarkte – das wäre ein Thema für sich, hat aber mit dem jüngsten Text allenfalls am Rande zu tun. All das führt nur weg vom Thema, seinem Text, führt nur hin zu seiner Person, deren Psychologie mich eben nicht interessiert. Auch nicht, ob er Antisemit ist, sein könnte oder immer schon war. Nicht er sollte Aufsehen erregen, sondern sein jüngster Text, den nicht zu kennen kaum mehr möglich ist. Und dieser Text wäre auch dann kein anderer, wenn ein anderer ihn geschrieben hätte. Ist er anti-israelisch? Ist er antisemitisch?
Anders als ein politischer Essay, verlangt die von Günter Grass gewählte Form des Gedichts geradezu danach, den Subtext mit Bedacht zu lesen und zu entschlüsseln, denn was ein Gedicht in erster Linie vor jeder anderen Literaturgattung auszeichnet, ist seine sprachliche Dichte. Im Gedicht steht kein überflüssiges Wort, keines steht willkürlich, jedes fordert Beachtung. Als er sich für diese Form entschied, wusste er, dass er das Publikum damit geradezu herausforderte, jedes Wort unter die Lupe zu nehmen.
Günter Grass schreibt nicht von einem Krieg den Israel beginnen könnte, er schreibt nicht von Angriffen auf definierte Ziele, er schreibt davon, dass das iranische Volk „ausgelöscht“ werden könnte. Dieses von ihm erdachte Szenario unterstreicht er zusätzlich durch den Begriff „Erstschlag“, der sich seit den 1970er Jahren als „atomarer Erstschlag“ in die Köpfe gebrannt hat und bis heute fast automatisch in dieser Bedeutung wahrgenommen wird. Aus in Israel diskutierten, gezielten Angriffen auf iranische Atomanlagen macht Günter Grass einen Vernichtungskrieg mittels „allesvernichtender Sprengköpfe“. Hier kommt es zu einer doppelten Verdrehung: Zunächst unterstellt er jenem Volk, das dem einstmals geplanten und fast vollzogenen Völkermord, dem Holocaust, entronnen ist, die Absicht, einen ebensolchen heute selbst zu planen. Die Opfer des vergangenen Völkermordes werden so zu den Tätern des zukünftigen. Die dadurch bewirkte Entlastung der Täter von einst verstärkt Günter Grass noch, indem er die Deutschen bedrängt, diesmal nicht zu schweigen, sich nicht noch einmal – diesmal mittels Waffenlieferung – an einem solchen Verbrechen zu beteiligen. Dieses „geplante“ Verbrechen setzt er dadurch, dass er jene vergangenen „ureigenen Verbrechen“ seines Landes im gleichen Atemzug beschwört, mit dem Holocaust in eins. Was Günter Grass aber in all seinem lauten Schweigen – und das ist die zweite Verdrehung – nicht erwähnt, ist die Tatsache, dass die iranische Führung Israel schon mehrfach mit „Auslöschung“ gedroht hat, damit, das kleine Land von der Landkarte zu tilgen (siehe auch). Indem Günter Grass die iranische Führung zu bloßen „Maulhelden“ erklärt, sagt er uns en passant, dass deren Drohungen nicht ernst zu nehmen seien, während, und davon handelt ja der Text, die Drohungen Israels unmittelbar vor der Ausführung stünden. Kein Wort verliert Günter Grass darüber, dass die iranische Führung schon seit Jahren Angriffe von Hisbollah und Hamas auf Israel mit Geld und Waffen unterstützt. Die Gefahr geht in seinem Text nur von Israel aus; der Iran ist allenfalls Opfer ungerechtfertigter Aggression.
Günter Grass ist kein Militärexperte, aber er hätte sich informieren können, informieren müssen, bevor er sich entschloss, seine Unterstellungen nicht mehr in die Welt hinauszuschweigen. Dann hätte er wissen können, dass ein U-Boot kein Mittel des atomaren Erstschlags ist, sondern eines des atomaren Letztschlags. Ein Atomwaffen-bestücktes U-Boot ist eine Defensivwaffe, reine Abschreckung, ist die Drohung an jeden potentiellen Angreifer, dass „selbst wenn es Dir gelingt, mein Land vollkommen zu zerstören – irgendwo da draußen, in den Tiefen des Meeres, habe ich Waffen, die Dich nach dieser Zerstörung noch treffen können.“ Ja, die dahinter stehende Logik ist pervers, die Logik der Abschreckung ist pervers. Aber ausgerechnet Israel, angesichts seiner Größe und seiner Stellung, umgeben von feindlich gesinnten Staaten mit zumeist auch feindlich gesinnter Bevölkerung, diese Art der Abschreckung abzusprechen, stellt schlicht sein Existenzrecht in Frage.
Günter Grass spielt in seinen Zeilen mehrfach mit dem Schweigen, dem Verschweigen, damit, sich zu untersagen, „jenes andere Land beim Namen zu nennen“. Eine gewisse Kenntnis auf dem Gebiet der Literatur und Mythologie darf bei Günter Grass wohl vorausgesetzt werden, dass er also weiß, was er schreibt: Nicht nur bei Harry Potter wird das Böse gebannt, indem sein Name verschwiegen wird – „du weißt schon wer…“ – nach mittelalterlich christlichem Volksglauben ruft derjenige, der den Namen des Teufels ausspricht, diesen herbei und gibt ihm damit Macht. Daher rühren all die verhüllenden Ausdrücke wie „der Leibhaftige“, „Gottseibeiuns“ und unzählige weitere. Mit der Wendung „jenes andere Land“ spielt Günter Grass bewusst mit dieser Konnotation, Israel wird so zum unaussprechlichen Bösen (Ahmadinedschad redet da offener vom Satan). Indem er dann, wenige Zeilen später nur, den Namen doch ausspricht, gibt er zu verstehen, dass er – man erinnere sich an Harry Potter – die Macht des Bösen über das eigene Denken und Leben gebrochen hat. Günter Grass befreit sich von der deutschen Geschichte, von der Judenvernichtung, aus der heraus er selbst an anderer Stelle das Tabu begründet, und hat damit den „nie zu tilgenden Makel“ der eigenen „Herkunft“ getilgt.
Wo Günter Grass „Israel“ schreibt, darf getrost „Juden“ gelesen werden – er selbst legt diesen Konnex nahe, auch wenn er ihn später, vielleicht erschrocken über die falschen Fans, zurücknehmen will. Er würde heute von der israelischen Regierung sprechen – eine zu späte Einsicht, denn in seinem Gedicht konstruiert er konsequent historische und gegenwärtige Kollektive, drei an der Zahl, die die Handlung abstecken: Da ist zuerst das „iranische Volk“, das der Auslöschung preisgegeben werden soll (das Opfervolk), da sind seine „Herkunft“ aus dem deutschen Volk (das als vergangenes Täterkollektiv sowie als gegenwärtiges Volk auftritt), das Beihilfe leisten soll (das Mittätervolk) und – zuletzt – „Israel“? Nein, in dieser Symmetrie fehlt noch das Tätervolk: Die Juden. Er muss es nicht aussprechen. In Günter Grass‘ Gedicht prallen Völker aufeinander, nicht Staaten und nicht Regierungen – und das Ergebnis ihres Ringes ist entscheidend für den Fortgang der Geschichte, für unser aller Überleben.
Damit komme ich zum inhaltlichen Höhepunkt seines Textes: Auf der Erde gibt es zur Zeit knapp 200 Staaten, von denen einer, ein einziger, den Weltfrieden gefährde: Der jüdische Staat, Israel. Er gefährde ihn so sehr, dass es „schon morgen zu spät sein könnte“. Dieses Stereotyp ist aus dem antisemitischen Diskurs der vergangenen Jahrhunderte nur allzu bekannt. Im mittelalterlichen Antisemitismus waren die Juden der „Antichrist“, der absolute Feind Gottes, seiner Kirche und der Gläubigen. Daraus entwickelte sich in der säkularen Variante des Antisemitismus des 19. und 20. Jahrhunderts die Vorstellung von den Juden als „Feind aller Völker“. Hitler nannte sie im heilsgeschichtlichen Duktus seines Denkens das „destruktive Element“ schlechthin, das „Gegenprinzip“ der Menschheit. Wenn Günter Grass nun ausgerechnet und ausschließlich in Israel eine Gefahr für den, wenn auch brüchigen, Weltfrieden erblickt, so als ob es nicht gerade in dieser Region genügend weitere Brandherde und Konflikte jenseits von Israel gäbe, dann greift er auf dieses Stereotyp zurück, dann sind es wieder die Juden, die verhindern, dass der Rest der Menschheit friedlich leben kann, dann sind es wieder die Juden, die die Welt womöglich „noch einmal in einen Weltkrieg stürzen“ (Hitler im September 1939).
Es mag sein, dass Günter Grass ein Anti-Kriegs-Gedicht verfassen wollte. Hätte er es nur getan, er hätte in Iran und Israel viele Freunde gefunden unter jenen, die sich mit ihrer (vor allem in Iran) mutigen Initiative gegen einen möglichen Krieg stellen. Aber Günter Grass hat kein Anti-Kriegs-Gedicht geschrieben, er hat ein Anti-Israel-Gedicht geschrieben, indem er unterstellt, dass die Kriegsgefahr allein von Israel ausgeht, und indem er, um die Gefahr drastisch zu steigern, zur Verleumdung greift und Israel den geplanten Einsatz atomarer Waffen und die geplante Vernichtung eines ganzen Volkes unterstellt. Das Gedicht zur Gänze antisemitisch zu nennen führt wahrscheinlich zu weit, aber Günter Grass muss sich vorwerfen lassen, mehrmals – ob er es wollte oder nicht – auf bekannte antisemitische Stereotype zurückgegriffen zu haben. Zu Günter Grass selbst fällt mir wirklich nichts ein.