Der Einfluss vom Islam auf die europäische Kultur ist längst nicht so bedeutend, wie viele meinen. Eine Replik auf Muhammad Sameer Murtazas Artikel Ohne Orient kein Okzident.
Muhammad Sameer Murtazas Artikel verfolgt ein einziges, allzu offensichtliches Ziel: Er will beweisen, dass der Islam immer schon zu Europa gehörte und Europa erst zu dem machte, was es heute ist. Nun schreibt – wer eine Apologetik verfasst – nicht zwangsläufig nur Falsches, wird aber versucht sein, Fakten so darzustellen, dass die eigene Sicht von ihnen gestützt wird und andere Fakten außen vor zu lassen. Das ist Murtaza gut gelungen. Wenn er bedauert, dass der Islam im mittelalterlichen Europa zum Feindbild wurde, unterschlägt er, dass dieses Feindbild benennbare Ursache hatte: Den arabischen und später den osmanischen Imperialismus, der Teile des christlichen Europas über 1000 Jahre hinweg bedrohte. Das klingt bei ihm nur in einem Satz kurz an, um sogleich wieder relativiert zu werden.
Wenn der Autor davon schreibt, dass „500 Jahre Islam auf dem Balkan im kollektiven Gedächtnis Europas verdrängt“ worden seien, dann verdrängt er, was im kollektiven Gedächtnis – ob wir dessen Langlebigkeit nun bedauern oder nicht – nach wie vor präsent ist: Eroberungen, jahrhundertelange Besetzung, Unterdrückung, Angst vor Krieg, Raub und Versklavung. Der Begriff „Türkenkriege“ bezeichnet eine Zeit von ungefähr 1430 bis zum Ende des 17. Jahrhunderts. In manchen Phasen dieser Zeit fielen fast im Jahrestakt Akıncı (irreguläre, aber dem Sultan treu ergebene Reiterhorden von bis zu 10.000 Mann) bis nach Österreich ein. Ihre Aufgabe war es, Gebiete sturmreif zu machen. Sie plünderten, brannten Dörfer und Felder nieder, ermordeten die männliche Bevölkerung und versklavten Frauen und Kinder. „Diese Überfälle haben ganz Thrakien bis hin nach Dalmatien in eine Einöde verwandelt“, schrieb der spätmittelalterliche, byzantinische Historiker Dukas.
Und wenn Murtaza an anderer Stelle schreibt, Kreuzzüge und Reconquista hätten „für einen weniger friedlichen Wissenstransfer“ gesorgt, dann impliziert er, die der Reconquista vorausgehenden islamischen Eroberungen des Nahen Ostens, Nordafrikas und Spaniens (7.-8. Jahrhundert), sowie Anatoliens (11. Jahrhundert) seien eine Form des friedlichen Wissenstransfers gewesen.
Die arabische Vermittlung antiken Wissens war nur einer von drei Wegen
Die Wichtigkeit des Islam für Europa wird immer – und so auch von Murtaza – durch das Argument gestützt, Renaissance und Aufklärung seien ohne den arabischen Transfer griechischer Schriften nicht möglich gewesen. Richtig daran ist, dass viele Schriften der griechischen Antike über das Arabische nach Europa gelangten und hier rezipiert wurden; richtig ist auch, dass Ibn Rushd für die mittelalterliche Scholastik (deren Einfluss auf die Aufklärung nicht hoch genug eingeschätzt werden kann) der maßgebliche Kommentator der Werke des Aristoteles war. Dennoch ist dieses Argument aus zwei Gründen falsch.
Die arabische Vermittlung antiken Wissens war nur EINER von drei Wegen, auf denen antike Schriften nach Westeuropa gelangten. Für die Renaissance in Italien war sie vermutlich nicht einmal der maßgebliche, doch dazu etwas weiter unten. Geradezu unfein ist Murtazas Abwertung der griechischen Leistungen durch die Mär, den Griechen sei experimenteller Geist und Naturforschung fremd gewesen – um im Gegenzug beides für den Islam zu reklamieren. Ein kurzer Blick in die Antike genügt, diese Behauptung zu widerlegen: Wie ist es den Griechen wohl gelungen, ihre architektonischen Meisterleistungen zu vollbringen, wenn sie sich dabei nur auf rein spekulatives Denken verlassen konnten? Auch die griechische Medizin ist kaum denkbar ohne genaues Studium des menschlichen Körpers.
Die Schriften des Hippokrates dienten noch arabischen Gelehrten als Grundlage ihrer medizinischen Werke. Auch eine Leistung wie die erstaunlich akkurate Berechnung von Erdumfang und -radius durch Eratosthenes 240 vor Christus erforderte – neben der bereits hochentwickelten Geometrie – eine sehr genaue Beobachtung und Vermessung der Natur.
Das Byzantinische Reich hätte Murtaza kennen müssen
Der früheste Weg, auf dem die Antike nach Westeuropa fand, verlief über das Fränkische Reich der Karolinger. Karl der Große ließ im Wunsch, das Römische Reich wieder zu errichten, alle antiken Schriften zusammentragen, derer er habhaft werden konnte. Nicht von ungefähr sprechen wir von der karolingischen Renaissance. Karl verstand es, für dieses Projekt von überall her die entsprechenden Experten an seinen Hof zu holen. Diese suchten, kauften und kopierten einen unermesslichen Schatz antiken Wissens: Vornehmlich Werke der römischen Antike, Vergil und Ovid, Cicero und Livius, die medizinischen Traktate von Galēn, Grammatiken sowie astronomische und mathematische Werke, aber natürlich auch lateinische Ausgaben von Aristoteles und Platon.
„Das ganze Spektrum der ‚heidnischen‘ Autoren haben die karolingischen Kopierzentren in ihre Kodizes übertragen“, schreibt Bernhard Jussen (Die Franken, München 2014). Eines der aktivsten dieser Kopierzentren war das Frauenkloster Chelles bei Paris, in dem die Schwester Karls als Äbtissin wirkte. Diesen Weg der Überlieferung nicht zu kennen, ist keine Schande, er ist noch immer wenig bekannt, ein Versäumnis ist es aber allemal.
Der dritte Weg der Überlieferung antiken Wissens lässt sich jedoch kaum ignorieren. Er führt über Byzanz. Das Byzantinische Reich hat nicht nur das antike Römische Reich bis an den Rand der Neuzeit geführt, sondern war auch der Bewahrer antiken Wissens und antiker Schriften schlechthin. Dieses Reich war ein griechisches und seine Verbindungen zu Westeuropa waren nie unterbrochen. Der Kaiser von Konstantinopel galt auch im Westen als legitimer Nachfolger der Römischen Kaiser. Besonders enge, wenn auch nicht ganz friktionsfreie, Beziehungen bestanden zwischen Konstantinopel und Venedig.
Bis ins 9. Jahrhundert hinein war Venedig der westlichste Außenposten des Reichs und besaß noch Jahrhunderte später ein Monopol auf den Handel mit demselben. Auf diesem Weg gelangten nicht nur Waren, sondern auch Schriften, Gelehrte und Wissen nach Westeuropa. Die Dichtung Homers beispielsweise wäre uns andernfalls gar nicht erhalten geblieben, denn für griechische Dichter und Dramatiker interessierten sich die arabischen Übersetzer herzlich wenig.
Was verleiht Wissenschaft und Philosophie das Prädikat islamisch?
Als es Venedig 1204 in einem Coup gelang, den 4. Kreuzzug nach Konstantinopel umzuleiten, die Stadt zu erobern, zu besetzen und zu plündern, gelangten nicht nur viele wertvolle Kunstwerke und Reliquien nach Westen, sondern ganze Bibliotheken. 250 Jahre später kam es zu einer zweiten Welle des Wissensexports: In den letzten Jahrzehnten vor der Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen flüchteten immer mehr Bürger mit ihrem Besitz aus dem zuletzt auf die Stadt geschrumpften Reich – vornehmlich Richtung Norditalien aber auch weiter nach Norden. Und noch in den letzten Monaten vor dem Fall Konstantinopels reisten Gelehrte aus dem Westen auf der Suche nach antiken Manuskripten gen Osten. Venedig und das Florenz der Medici waren die Orte, an denen sich das Wissen des antiken Griechenlands vornehmlich sammelte, und es ist kein Zufall, dass die italienische Renaissance genau hier ihren Ausgang nehmen sollte.
Der zweite Grund, warum die Behauptung Murtazas falsch ist, lässt sich in einer schlichten Frage veranschaulichen: Was eigentlich verleiht der Wissenschaft und Philosophie, von der er schreibt, das Prädikat islamisch? Die Werke Ibn Rushds werden von der islamischen Orthodoxie bis heute abgelehnt und sind vornehmlich durch die europäische Rezeption erhalten geblieben. Zu Lebzeiten erging es Ibn Rushd ähnlich wie Galileo 400 Jahre später. Im Jahr 1195 wurde er aufgrund seiner Thesen verbannt, sein Werk verboten und unter dem Beifall der Islamgelehrten verbrannt.
Niemand käme heute auf die Idee, Galileo einen christlichen Wissenschaftler zu nennen oder gar seine wissenschaftlichen Erkenntnisse als christlich zu bezeichnen. Auch Kopernikus, wiewohl Priester, oder Gregor Mendel, ein Ordenspriester, werden nicht mit dem Signum „christlich“ versehen. Was also macht die Philosophie Ibn Rushds oder die Medizin Ibn Sinas islamisch? Die Ablehnung durch die islamischen Theologen ihrer Zeit?
Wo Wissenschaft gedieh, tat sie dies meist abseits von offiziellen Religionen
Es gibt vielfältige Beispiele für blühendes Geistesleben, Wissenschaft und Kunst in islamischen Fürstentümern und Reichen. Zum Beispiel das Kalifat von Cordoba im 9. Jahrhundert unter Abd ar-Rahman III., der aus der Stadt eines der bedeutendsten Kultur- und Wissenszentren ihrer Zeit machte, das Gelehrten und Künstlern aus aller Welt offen stand. Sein Sohn al-Hakam II., selbst ein Gelehrter ersten Ranges, führte diese Tradition fort und baute eine der größten Bibliotheken auf.
Doch schon unter seinem Nachfolger al-Mansur wurde diese Bibliothek unter großem Beifall von Islamgelehrten und Bevölkerung zerstört. Oder Samarkand, das sich unter Ulugh Beg, einem Enkel Timur Lenks, in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts zu einem beachtlichen Zentrum der Wissenschaften entwickelte. Das dort errichtete Observatorium, eine Glanzleistung seiner Zeit, zog Forscher aus aller Welt an. Unter den Theologen jedoch hatte Ulugh Beg von Beginn an starke Feinde und nach seiner Ermordung wurde das Observatorium, unter Aufsicht eben dieser Theologen zerstört und geplündert; die Wissenschaftler mussten flüchten.
Wo Wissenschaft gedieh, tat sie dies meist abseits von oder sogar gegen die offizielle Religion. Das war in islamischen Gebieten nicht anders als in christlichen.
Die Existenz von Muslimen und damit die Existenz des islamischen Glaubens im heutigen Europa ist unbestritten. Aber sie kann ihre Legitimation nicht aus der Vergangenheit beziehen, und schon gar nicht lässt sich diese apologetisch herbeidichten; sie bezieht ihre Legitimation ausschließlich aus den Werten einer auf den Menschenrechten basierenden, pluralistischen und demokratischen Gesellschaftsordnung, die das Recht eines jeden Menschen anerkennt, seine Religion frei zu wählen und auszuüben, solange dies die gleichen Rechte aller anderen nicht tangiert.
Dieser Artikel erschien zuerst in meiner Kolumne auf THE EUROPEAN