Darf eine gewählte Mehrheit über Minderheiten verfügen? Oder: Was Mursis Demokratievorstellungen mit dem Schweizer Minarettverbot gemein haben.
Ein Gastbeitrag von Nina Scholz
Kann man bereits von einer Demokratie sprechen, wenn Regierung und/oder Präsident, wie in Ägypten geschehen, in freien Wahlen gewählt wurden? Wer die mediale Berichterstattung und – noch bedenklicher – die Kommentare diverser westlicher Politiker nach dem Militärcoup in Ägypten verfolgte, hätte auf diese Idee verfallen können. Viele kritisierten die Machtübernahme des Militärs vor allem deshalb, weil ein demokratisch gewählter Präsident aus dem Amt geputscht worden sei. Die Demokratie in Ägypten habe einen schweren Rückschlag erlitten, so Guido Westerwelle, und eine „solche Aussetzung der demokratischen Ordnung“ sei „keine nachhaltige Lösung der großen Probleme, vor denen Ägypten steht.“[1] In den ersten Meldungen nach dem Putsch wurde stets betont, Mursi sei der erste durch freie Wahlen eingesetzte Präsident gewesen. Implizit verbirgt sich hinter diesen Statements die Vorstellung, Wahlen an sich würden eine Demokratie begründen und die Politik einer gewählten Mehrheit legitimieren. Die deutsche Geschichte gibt uns eines der besten Beispiele für die Falschheit dieser Vorstellung.
Aushebelung der Demokratie durch die Mehrheit
Die NSDAP wurde 1932 in freien Wahlen mit 33,31% der abgegebenen Stimmen zur stärksten Partei gewählt, und Hitler nach langem Hin und Her verfassungskonform von Reichspräsident Hindenburg zum Kanzler ernannt. Die Ausschaltung der demokratischen Institutionen war nun nur noch eine Frage der Zeit; sie verlief erstaunlich schnell, was unter anderem der Tatsache geschuldet war, dass diese sich an ihrer Ausschaltung beteiligten, wie etwa das Parlament. So beschloss der Reichstag mit der Mehrheit von NSDAP und DNVP zunächst eine neue Geschäftsordnung, was in der Folge den Ausschluss der KPD ermöglichte. Mit dem ebenfalls mehrheitlich beschlossenen Ermächtigungsgesetz trat der Reichstag schließlich seine gesetzgebende Gewalt unmittelbar an Hitler ab. Mit Hilfe demokratischer Institutionen war somit die Demokratie beseitigt worden.
In Ägypten konnten wir beobachten, wie die Muslimbrüder, einmal an der Macht, sich im Bunde mit den Salafisten sogleich daran machten, Ägypten in Richtung Religionsstaat zu führen. Nichts verdeutlicht das stärker als die von beiden Fraktionen Ende 2012 ausgearbeitete Verfassung. Hier wurde mutwillig die Chance vertan, einen demokratischen Staat zu begründen, stattdessen der Bezug auf die Scharia gestärkt und noch offensichtlicher als zuvor das Primat des Islam in seiner Interpretation als Gesetzesreligion hervorgehoben und der Einfluss der religiösen Rechtsgelehrten der Al-Azhar auf das Gesetzgebungsverfahren gestärkt. Der Wille, den eingeschlagenen Weg gegen alle Widerstände fortzusetzen, zeigte sich in verschiedenen Schritten Mursis; man denke nur an die Sondervollmachten, die er sich vom Parlament ausstellen ließ, die Aufhebung der Gewaltenteilung, die Verhängung des Ausnahmezustands wegen der Proteste gegen die Verfassung und die Besetzung verschiedener Gouverneursposten mit Islamisten. Ein Staat, der auf dem religiösen Recht einer Religionsgemeinschaft basiert, kann kein Staat gleichberechtigter Bürgerinnen und Bürger sein, sondern muss zwangsläufig alle Nicht- und Andersgläubigen benachteiligen und in ihren Rechten verletzen.
Minarett-Bauverbot in der Schweiz
Die Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer entschied sich 2009 in einer Volksabstimmung für ein Minarett-Bauverbot und lieferte damit ein Beispiel für eine demokratische Abstimmung, die gegen die Regeln einer Grundrechtsdemokratie verstößt. Volksabstimmungen gehören in der Schweiz als Element direkter Demokratie zum politischen System und funktionierten bislang gut. Doch diesmal wurde eine demokratische Spielregel gebrochen, indem eine Mehrheit sich angemaßt hat, letztendlich darüber abzustimmen, ob ein Grundrecht, das allen Bürgern zusteht, für eine religiöse Minderheit eingeschränkt werden soll: Das Recht auf Religionsfreiheit. Dieses beinhaltet zweifelsfrei auch das Recht jeder anerkannten Religionsgemeinschaft, Versammlungs- und Kultorte nach eigenen Bedürfnissen und eigenem Geschmack zu bauen. Über das Schweizer Minarettverbot wird der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entscheiden müssen und es ist absehbar, dass dieses Verbot dort keinen Bestand haben wird. Zwar hat der EGMR in Straßburg bereits zwei Klagen gegen das Minarettverbot zurückgewiesen, der Grund dafür war allerdings, dass die Kläger nicht nachweisen konnten, von diesem Verbot persönlich betroffen zu sein. Der EGMR prüft Gesetze nicht anlassunabhängig. Das bedeutet, dass eine Klage erst dann eingebracht werden kann, wenn ein konkreter Moscheebau ansteht und dessen Auftraggeber sich entscheiden, den Bau von Minaretten durch alle Schweizer Instanzen einzuklagen. Erst wenn dies scheitert, kann der EGMR angerufen werden.
Ein fiktives Beispiel
Man stelle sich vor, in Österreich erreichten fundamentalistisch-katholische Parteien in einer freien Wahl eine Zweidrittelmehrheit und nutzten diese nun, mittels einer Verfassungsänderung Österreich zu einem katholischen Staat zu erklären. Alle anderen Bekenntnisse würden nachgeordnet und eingeschränkt. Über Kirche, Katholizismus, Gott, Jesus und alle Heiligen dürfte nicht mehr kritisch geredet, geforscht und geschrieben werden, ebenso wenig wie über den neuen Präsidenten. In vielen Belangen (z.B. Heirat und Scheidung) müsste künftig nach Kirchenrecht gehandelt und jedes neue Gesetz der Bischofskonferenz zur Begutachtung und Genehmigung vorgelegt werden. Die Autorin dieser Zeilen würde sich wünschen, dass dem Rest der Welt dazu etwas anderes einfiele, als zu vermelden, das sei nun einmal das legitime Vorgehen einer demokratisch gewählten Regierung. Auch wenn das Beispiel hinkt und hier keineswegs unterstellt werden soll, die heutige Kirche sei an Derartigem interessiert, verdeutlicht es vielleicht ein wenig die Parallelen zur Herrschaft der Muslimbrüder und die Notwendigkeit, Demokratie unter den Vorbehalt der Menschenrechte zu stellen.
Freie Wahlen sind ein notwendiger Bestandteil der Demokratie, hinreichend sind sie nicht
„Demokratie“, so der Philosoph Giovanni Sartori, „ist nicht unqualifizierte (und damit unbeschränkte) Mehrheitsherrschaft.“[2] Der vom Juristen Wolfgang Fikentscher in den 1970er Jahren geprägte Begriff der Grundrechtsdemokratie charakterisiert moderne Demokratien als Verfassungsstaaten, die die grundlegenden Menschenrechte als jederzeit einklagbare und unveräußerliche Grundrechte jedes einzelnen Bürgers und jeder einzelnen Bürgerin garantieren. Wie groß eine Regierungsmehrheit im Parlament auch immer ist, sie kann keine Beschlüsse fassen, die diese Grundrechte verletzen. Diese stellen als Abwehrrechte der/des Einzelnen gegenüber dem Staat die erste Einschränkung jeder Regierungsgewalt dar und verhindern so auch einen „Mehrheitsdespotismus“ (Alexis de Tocqueville).[3] John Locke sah im Schutz der „natürlichen Rechte der Bürger“ die einzige Legitimität des Staates überhaupt.[4]
Seit Locke und Montesquieu wird staatliche Gewalt – auch und gerade demokratisch legitimierte – nicht mehr als ungeteilt gedacht. Der moderne Staat basiert bekanntlich auf Gewaltentrennung. Der Judikative – und damit kommen wir zum Kern der Sache – kommt dabei auch die Aufgabe zu, mittels ihres obersten Organs, des Verfassungsgerichts, die Beschlüsse und Handlungen von Parlament (Legislative) und Regierung (Exekutive) zu überwachen und diese im Falle einer Verfassungswidrigkeit aufzuheben. Erst auf der Grundlage einer die Menschenrechte garantierenden Verfassung und einer funktionierenden Gewaltenteilung sprechen wir heute von Demokratie. Fehlen die genannten Voraussetzungen, sind freie Wahlen kein Zeichen von Demokratie, sondern schlicht ein formaler Akt zur Regierungsbildung.
Das deutsche Grundgesetz gibt Bürgerinnen und Bürgern in Artikel 20 Absatz 4 das Recht, gegen jegliche Versuche, die durch das Grundgesetz aufgestellte Ordnung zu beseitigen, Widerstand zu leisten. Dieser Artikel hat vor allem symbolischen Charakter, denn im Falle der Außerkraftsetzung des Grundgesetzes ist er natürlich nicht mehr einklagbar. Aber die Bedeutung eines solchen Widerstandsparagraphen kann nicht hoch genug eingeschätzt werden, vor allem vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte. Er symbolisiert den hohen Wert des Grundgesetzes und der darin festgeschriebenen Menschenrechte. Einen Widerstandsparagraphen gibt es übrigens auch in der portugiesischen Verfassung von 1976, die ebenfalls die jüngere Geschichte des Landes reflektiert. Die Menschenrechte sind im deutschen Grundgesetz als Grundrechte bewusst an prominente Stelle gerückt worden: Die insgesamt 19 Artikel folgen unmittelbar auf Eingangsformel und Präambel. Artikel 20 legt dann die Staatsform fest: Die Bundesrepublik „ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat“. Es sind diese 20 Artikel, die Deutschland zur Grundrechtsdemokratie machen. Diese wird zudem durch die sogenannte Ewigkeitsklausel festgeschrieben, die Änderungen der Grundsätze der Artikel 1 und 20 und damit de facto eine Abschaffung der Grundrechte und der Staatsform verbietet. So unterschiedlich die Verfassungen demokratischer Staaten im Detail sein mögen, gemein ist ihnen allen die Festschreibung der Menschenrechte als unveräußerlich.
In Ägypten wurde unzweifelhaft ein demokratisch gewählter Präsident gestürzt, aber kein Demokrat. Die Muslimbruderschaft war von ihrer Gründung im Jahr 1928 an – auch ihrem eigenen Selbstverständnis nach – nie eine demokratische Organisation, ihr Ziel war und ist ein sunnitisch-islamischer Religionsstaat. Gleichberechtigte Bürgerinnen und Bürger, unabhängig von ihrer religiösen oder weltanschaulichen Präferenz, sind nicht Teil ihrer gesellschaftlichen Utopie.
Es geht selbstverständlich zu weit, das ägyptische Militär, wie es einige andere Kommentatoren tun, zu Rettern der Demokratie zu erklären, auch wenn viele Millionen in Ägypten, denen nach einem Jahr Muslimbruder-Regierung der Schreck gehörig in die Knochen gefahren war, diesen Putsch begrüßten und bereit waren, dem Militär eine Generalvollmacht zu erteilen.[5] Das ägyptische Militär, das vor 62 Jahren erstmals die Macht ergriff, hatte nie die Errichtung einer Demokratie zum Ziel, andernfalls hätte es jederzeit die Macht besessen, diese auf den Weg zu bringen. Es musste 2011 vielmehr von einer Volksbewegung von der Macht verdrängt werden, denn es war das Militär mit Hosni Mubarak als General an dessen Spitze, das Ägypten regierte. Doch bereits diese Verdrängung erfolgte nur halbherzig. Zwar wurde der Präsident gestürzt, aber die Macht des Militärs ansonsten kaum angetastet. Somit trägt der Putsch bislang vor allem restaurative Züge – und hier liegt das Problem Ägyptens: Weder das Militär noch die Muslimbrüder oder die Salafisten wollen einen demokratischen Staat und hinter diesen Fraktionen stehen jeweils große Teile der ägyptischen Bevölkerung. Anders gesagt: Eine Mehrheit sammelt sich hinter undemokratischen Organisationen/Parteien. Dieser Zustand erinnert in gewisser Weise an die Weimarer Republik, auch wenn die Parteien und ihre Ziele dort andere waren. Im Jahr 1932 votierte eine Mehrheit der deutschen Wählerinnen und Wähler für demokratiefeindliche Parteien. Bei der ersten Wahl im Juli 1932 wählten 37,36% die NSDAP und 14,56 die KPD, somit zusammen über 50%. Hinzu kamen 5,93% für die DNVP, die ebenfalls kaum als demokratisch bezeichnet werden kann. Bei der Wahl im November 1932 sah das Ergebnis, mit leichten Stimmverschiebungen, nicht viel anders aus: Knapp 59% votierten für eine dieser drei Parteien. Im März 1933, kurz nach Hitlers Ernennung zum Kanzler, waren es bereits 64%, also fast zwei Drittel der Wähler und Wählerinnen. Mit einem solchen Ergebnis ist keine Demokratie zu machen.
Nina Scholz, aufgewachsen in Jena, ist Politikwissenschaftlerin und lebt in Wien. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Nationalsozialismus und Antisemitismus. Zuletzt erschienen: Heiko Heinisch/Nina Scholz, Europa, Menschenrechte und Islam – ein Kulturkampf?, Passagen Verlag Wien 2012
[1] http://www.zeit.de/politik/ausland/2013-07/aegypten-sturz-mursi-reaktionen
[2] Giovanni SARTORI, Demokratietheorie, Darmstadt 1997, 41.
[3] Alexis de TOCQUEVILLE, Werke und Briefe. Band 1: Über die Demokratie in Amerika, Stuttgart 1959, 289, 296 f.
[4] Näher ausgeführt im Kapitel „Menschenrechte“ des von Heiko Heinisch und mir verfassten Buches „Europa, Menschenrechte und Islam – ein Kulturkampf?“, Wien Passagen Verlag 2012.
[5] So etwa ägyptische Frauenorganisationen: „Wir plädieren für ein weiteres Mandat der Armee. Sie soll alles tun, was in ihrer Macht steht, um uns vom Joch des islamistischen Terrors zu befreien.“, zitiert nach: http://de.qantara.de/inhalt/politische-krise-am-nil-aegyptens-frauen-glauben-blind-an-das-militaer