Culture Rules Teil II.
Der türkische Vizepremier Bekir Bozdağ (AKP) ließ vor knapp einem Monat mit der Klage aufhorchen, türkische Kinder in Deutschland würden vorwiegend in deutschen Pflegefamilien untergebracht. Zitat: „Diese Kinder sollten nicht mehr in deutsche Familien gegeben werden. Sie werden dort regelrecht christianisiert. Hier sind wir mit einem großen Drama, einer großen Assimilation konfrontiert.“ Das türkische Parlament beauftragte sogleich die hauseigene Menschenrechtskommission mit einer Untersuchung. Der Vorsitzende der Kommission, Ayhan Sefer Üstüm, sprach in diesem Zusammenhang von Menschenrechtsverstößen und bezeichnete es als nicht akzeptabel, dass türkische Pflegekinder in Familien einer „völlig anderen Kultur“ unterkämen. Im türkischen Fernsehen wird Deutschland deshalb „Nazi-Mentalität“ vorgeworfen. Besondere Angst scheint die türkische Regierung davor zu haben, dass türkische Kinder in homosexuellen Pflegefamilien untergebracht werden könnten. Deren Lebensweise sei mit der von türkischen Kindern nicht vereinbar. “Türkische Familie wollen ihre Kinder nicht an schwule oder lesbische Paare geben”, so Bekir Bozdağ. (siehe auch den Beitrag von Serap Çileli)
In Deutschland greifen Jugendämter ein, wenn Kinder in der Familie misshandelt werden, wenn sie verwahrlosen oder die Eltern aufgrund von Krankheit nicht in der Lage sind, sich um ihre Kinder zu kümmern. Für Kinder aus türkischen Familien finden sich laut Rechtsauskunft des Deutschen Instituts für Jugendhilfe und Familienrecht (DIJuF) nicht genügend türkische Pflegefamilien. Das mag unter anderem dem im Koran verankerten Adoptionsverbot geschuldet sein, das auch auf der Seite des Zentralrats der Muslime in Deutschland argumentiert wird, auch wenn dieser anmerkt, die Aufnahme von Pflegekindern sei demgegenüber erlaubt. Die Alternativen zu deutschen Pflegefamilien wären demnach Kinderheim oder das Verbleiben in jener Familie, in der das Kind zuvor vernachlässigt oder misshandelt wurde. Da es der türkischen Regierung vorgeblich um das Wohl der Kinder geht, sieht sie dieses offensichtlich besser in einer solchen Familie gewährleistet, solange diese nur türkisch ist und damit der „Kultur“ der Kinder entspricht.
Die laute Empörung passt zur Politik der Regierung Erdoğan, der bei seinen Auftritten in Deutschland Menschen türkischer Herkunft immer wieder dazu aufgerufen hat, sich nicht zu assimilieren, sondern Türken zu bleiben – was immer das heißen soll. Erdoğan und seine AKP bestehen auf einer religiös kulturellen Identität „ihres“ Kollektivs, das sie gegen alle Nichtzugehörigen in Stellung bringen. Diese Politik, die nicht den einzelnen Menschen und seine Bedürfnisse in den Fokus nimmt, sondern den Bestand eines kulturellen Kollektivs, stellt sich offensiv dem friedlichen Zusammenleben von Menschen in einer pluralistischen Gesellschaft in den Weg. Jede „Vermischung“ wird als Gefahr für die Eigengruppe betrachtet, jedes freiwillige Ausscheren aus dem Kollektiv als Verrat.
Aus der Empörung lassen sich zwei Schlüsse ziehen: Zum einen ist die türkische Regierung offensichtlich der Meinung, Kultur sei eine Eigenschaft, die von den leiblichen Eltern auf die Kinder vererbt wird. Folglich sei das Aufwachsen in einer anderen als dieser angeborenen Kultur schädlich für ein Kind – gar ein Verstoß gegen dessen Menschenrechte (gegen welche genau bleibt unklar). Zum anderen betrachtet sie die „deutsche Kultur“, die seit dem jüngsten Beschluss des Bundesverfassungsgerichts die Adoption durch homosexuelle Paare zulässt, als minderwertig und für Türken völlig unannehmbar. Diese kulturkämpferische Haltung unterscheidet sich nicht von derjenigen deutscher und europäischer Rechter – mit umgekehrten Vorzeichen. Zur Verdeutlichung möge man die Begriffe deutsch und türkisch in den Meldungen vertauschen. Es handelt sich um eine kulturalisierende, geradezu rassistische Position, in der Menschen deutlich voneinander abgegrenzten, ethnisch und kulturell „reinen“ Kollektiven zugeordnet werden. In diese Kollektive werden sie hineingeboren und aus diesen sterben sie am Ende wieder heraus.