Die Universalität der Menschenrechte

Der Forderung nach Menschenrechten in außerwestlichen Staaten – in jüngster Zeit vor allem in arabischen – wird häufig damit begegnet, diese seien eine westliche Erfindung, die sich nicht ohne weiteres auf andere Kulturen übertragen lasse. Es steht außer Frage, dass die Menschenrechte das Ergebnis einer philosophischen und rechtlichen Entwicklung sind, die in dieser Form nur in Europa und in seiner Folge in Nordamerika zum Tragen kam.[1] Aber schmälert das deren Anspruch auf universale Gültigkeit? Lässt sich eine universale Gültigkeit von einem übergeordneten Standpunkt aus begründen und gibt es einen solchen Standpunkt?

1776 wurde in Virginia die erste Verfassung der Menschheitsgeschichte angenommen, die die Menschenrechte von einer Idee in positives Recht überführte und erstmals von einer Gleichheit der Rechte aller Menschen sprach: „Alle Menschen sind von Natur aus in gleicher Weise frei und unabhängig und besitzen bestimmte angeborene Rechte, welche sie ihrer Nachkommenschaft durch keinen Vertrag rauben oder entziehen können, wenn sie eine staatliche Verbindung eingehen, und zwar den Genuss des Lebens und der Freiheit, die Mittel zum Erwerb und Besitz von Eigentum und das Erstreben und Erlangen von Glück und Sicherheit.“ Das begründete den normativen Universalismus der Menschenrechte. Die Überführung in einklagbares Recht führte dazu, dass sie ihren Einflussbereich aus sich selbst heraus ausweiten konnten. Die Verfasser der Virginia Declaration of Rights dachten vermutlich nicht an eine gleiche Würde und tatsächlich gleiche Rechte für alle Menschen – obwohl sie genau das niederschrieben – sie dachten vornehmlich an die Rechte weißer Männer. Das von ihnen geschaffene Rechtssystem wurde in den folgenden Jahren von mehreren Staaten und schließlich in die amerikanische Bundesverfassung übernommen, und es dauerte nur knappe 6 Jahre, bis das Verfassungsgericht von Massachusetts die Sklaverei mit der Begründung verbot, sie sei mit der Verfassung des Staates nicht zu vereinbaren.Virginia Declaration

Es brauchte zwar weitere, lähmende 170 Jahre, bis auch das System der Rassentrennung auf den Prüfstand kam. Die Abschaffung der Rassentrennung war allerdings in den Menschenrechten bereits angelegt, denn sie verlangen ein gesellschaftliches System der Nichtdiskriminierung. Als sich Rosa Parks im Jahr 1955 in einem Bus in Montgomery/Alabama weigerte, ihren Sitzplatz für einen Weißen freizumachen, tat sie dies in der Überzeugung, genauso viel Recht auf diesen Sitzplatz zu haben wie jede und jeder andere auch. Die Bürgerrechtsbewegung organisierte nach ihrer Verurteilung zu einer Geldstrafe durch ein Gericht in Alabama den größten Busstreik in der Geschichte der Vereinigten Staaten, der die Busgesellschaft an den Rand des Konkurses brachte. Und sie kämpfte – wie immer in diesen Fällen – auch auf der juristischen Ebene, denn sie kämpfte in dem Bewusstsein, keine neuen Rechte zu fordern, sondern schlicht die Anwendung der allen Menschen in der Verfassung garantierten Rechte. Sie kämpfte schließlich in dem Bewusstsein, nicht nur moralisch im Recht zu sein, sondern faktisch Recht zu haben. Diese Sicht teilte der Oberste Gerichtshof 1956. Er gab Rosa Parks kein Recht, sondern bestätigte, dass sie ein Jahr zuvor das Recht hatte, auf ihrem Sitz sitzen zu bleiben und das es Unrecht war, sie zum Aufstehen zu zwingen.

Dadurch, dass Menschenrechte alle Menschen gleichermaßen vor Diskriminierung schützen, erzwingen sie – wenn auch manchmal auf lange Sicht – die Nichtdiskriminierung. Aber ist dieser Anspruch der Menschenrechte universalisierbar oder anders gefragt: Ist die mit den Menschenrechten verbundene Bevorzugung des Individuums gegenüber jedem Kollektiv tatsächlich begründbar und zwar von einem übergeordneten Standpunkt aus? Ein solcher übergeordneter Standpunkt wäre dann gegeben, wenn es bestimmte Bedürfnisse oder Interessen gäbe, die allgemein menschlich sind, die sich also aus dem Menschsein an sich und nicht aus der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe, Kultur, Religion, Abstammung oder dem Geschlecht ableiten lassen. Zumindest eines dieser menschlichen Bedürfnis darf angenommen werden, nämlich das, das jeder Mensch frei von Schmerz oder Gewalt leben möchte.

Wenn dieses Bedürfnis also anerkannt wird, stellt sich die Frage, in welchem System dieses Bedürfnis besser verwirklicht wird. In seinem Buch Gewalt: Eine neue Geschichte der Menschheit kann der Psychologe und Kognitionswissenschaftler Steven Pinker meiner Meinung nach plausibel belegen, dass auf den Menschenrechten basierende Demokratien weit weniger gewalttätig sind als alle anderen staatlichen oder nichtstaatlichen Gesellschaften. Sie weisen weniger Morde, weniger Vergewaltigungen und andere Gewaltverbrechen, und vor allem weniger staatliche Gewalt auf. Demokratien führen in der Regel auch keine Kriege gegeneinander. Kurz: Das Bedürfnis nach einem Leben frei von Gewalt und Schmerz wird im individualistischen System der Menschenrechte weitaus besser erfüllt als in jedem kollektivistischen. Dieses Ergebnis basiert auf den Grundlagen der jeweiligen Gesellschaften. Dadurch, dass in menschenrechtlich fundierten Gesellschaften der Einzelne in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt, erhält dieser eine von der Restgesellschaft unabhängige, ihm eigene Würde: Das Leben und damit auch die körperliche und seelische Unversehrtheit des Einzelnen wird zum Wert an sich. Diese Sicht verträgt sich langfristig nicht mit der Anwendung von Gewalt; oder anders gesagt: Sinnvoll begründen lassen sich nur entweder Gewalt oder die Würde des einzelnen Menschen – aber nicht beides. Die Festlegung einer Gesellschaft auf Recht und Würde des Einzelnen impliziert also geradezu eine gesellschaftliche Entwicklung hin zur Gewaltfreiheit. Diesen Prozess konnten wir in den vergangenen rund zweihundertfünfzig Jahren beobachten.

Zudem begründen Menschenrechte ein offenes und pluralistisches System. Dieses ist bislang das einzig uns bekannte Gesellschaftsmodell, das offene Systemkritik bis hin zur totalen Ablehnung der Gesellschaft erlaubt und ermöglicht. In einer pluralistischen Gesellschaft können sowohl unterschiedlichste individuelle als auch kollektivistische Lebensentwürfe verwirklicht werden, während in kollektivistischen Gesellschaften ein hoher Konformitätsdruck herrscht. Kollektive basieren letztlich auf ihrer Abgrenzung nach außen, gegenüber allen anderen Kollektiven und, damit eng verbunden, auf der Forderung nach Konformität nach innen, gegenüber ihren Mitgliedern. Steht das Kollektiv über den Individuen, ergibt sich in solchen Gesellschaften fast zwangsläufig eine höhere Gewaltbereitschaft, um Konformität im Zweifelsfall erzwingen zu können. Wer in einem Kollektiv leben will, kann dies auch in einer westlichen Demokratie tun, wer aber seinen individuellen Bedürfnissen folgen will, wird dafür in kollektivistischen Gesellschaften wenig Platz finden. Staaten, die Staaten all ihrer Bürgerinnen und Bürger – unabhängig von deren Herkunft, religiöser oder kultureller Zugehörigkeit, Hautfarbe und Geschlecht – sein wollen, werden diesen Anspruch letztlich nur auf dem Boden allgemeiner Menschenrechte verwirklichen können.

An die Kritiker und Kritikerinnen allgemeiner Menschenrechte als universelle Grundlage des Zusammenlebens sei daher zuletzt die Frage gestellt: Gibt es ein wirklich tragfähiges Argument für prinzipielle Rechtsungleich von Menschen? Denn das ist letztlich die Alternative zur Gleichheit der Rechte.



[1]Für einen historischen Abriss der Entstehung der Menschenrechte siehe das Kapitel Menschenrechte im Buch: Heiko Heinisch, Nina Scholz, Europa, Menschenrechte und Islam – ein Kulturkampf?, Wien 2012