Den folgenden Text hat Elham Manea mir dankenswerterweise zur Verfügung gestellt. Er wurde erstmals im März 2012 auf Amina Chaudris Blog veröffentlicht.
Elham Manea wurde in Ägypten als Tochter eines jemenitischen Diplomaten geboren. Sie ist Buchautorin (u.a. „Ich will nicht mehr schweigen: Der Islam, der Westen und die Menschenrechte (Herder, 2009)) und Privatdozentin an der Universität Zürich. 2016 wird
ihr Buch „Women and Shari’a Law: The Impact of Legal Pluralism in the UK“ bei I.B.Tauris, London publiziert, eine Untersuchung von Rechtspluralismus in europäischen Gesellschaften. Elham Manea engagiert sich für einen humanistischen Islam; Menschenrechte sind für sie das höchste Gut und dürfen nicht angetastet werden. Sie ist die offizielle Stimme der Kampagne für die Freilassung Raif Badawis.
Was formt einen Menschen? Was macht ihn zu der Persönlichkeit, als die man ihn heute kennt? Manchmal frage ich mich, ob ich heute die wäre, die ich bin, wenn nicht die Augen meiner Mutter gewesen wären. Der stumme Ruf ihrer Augen wird mein ganzes Leben lang in mir widerhallen. Ohne diesen Widerhall hätte ich meinen ersten arabischen Roman صدى الأنين (Echoes of Pain) nicht geschrieben.
Wäre ich heute jemand anderes, wäre nicht die Stimme meines Vaters gewesen? Wie auch meine Mutter sprach er lange mit mir – über das Leben und den Tod, über Religion und über die Freiheit des menschlichen Willens. Als ich klein war, spielte er mit mir am liebsten Gedichte rezitieren: Er trug einen Teil eines Gedichts vor, und ich musste mit dem letzten Buchstaben ein neues beginnen. Ich liebte seine Spiele. Er war ein Philosoph, der stärker an mich glaubte, als ich selbst es tat. “Träume von den Sternen, arbeite hart, und mit ein bisschen Glück wirst Du sie einfangen”. Ich verstand nie ganz, was er in mir sah, aber mit der Zeit lernte ich, seinem Glauben an mich zu vertrauen.
Die Geschichten meiner Mutter waren ganz anders. Sie waren durch Schmerz geformt: der Schmerz, ein Mädchen zu sein, das mit acht Jahren beschnitten wurde; der Schmerz über den Fluch ihrer Schönheit, die ihren Vater dazu brachte, sie mit 13 zu verheiraten – je früher die Last auf einen anderen überwälzt war, desto besser –; auch der Schmerz von anderen Frauen, deren bittere Geschichten sie kannte. Dieser Schmerz hatte oft mit Männern zu tun. „Dem Mann kann man nicht vertrauen. Der Mann fügt nur Schmerzen zu”. Aber mein Vater war doch ein Mann! Und bei Gott, er war so wunderbar. Er war mein Held. Weiterlesen →