Bundespräsident Joachim Gauck lässt mich nicht los. Nach der Lektüre seines schmalen Bändchens „Freiheit. Ein Plädoyer“ (Kösel-Verlag München 2012) ist mir die Kritik einiger Vertreter der ehemaligen kirchlichen Opposition der DDR im bereits an anderer Stelle erwähnten offenen Brief auch inhaltlich noch weniger verständlich als zuvor, denn Joachim Gauck tritt leider gerade nicht für die von ihnen kritisierte individuelle Freiheit und „individuelle Selbstermächtigung“ ein.
Auf rund 50 Seiten im Format A6 tut er seine Gedanken zu Freiheit, Verantwortung und Toleranz kund. Aus seinen Zeilen spricht allerdings mehr der Pastor als der mündige Bürger, mehr der erhobene Zeigefinger als der Ruf nach Bürgerrechten. Symptomatisch dafür ist die an zentraler Stelle platzierte Frage: „Und du, wozu bist du imstande, wofür willst du dich einsetzen? Wie willst du Freiheit gestalten?“ (S. 22) Freiheit impliziert für Joachim Gauck die Verpflichtung zu gutem Handeln: „Ich nenne die Freiheit der Erwachsenen ‚Verantwortung‘.“ (S. 26, sowie der Schlusssatz auf S. 62) Offensichtlich glaubt er, aus seiner persönlichen Vorstellung davon, was er mit seiner individuellen Freiheit anzufangen gedenkt – gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen –eine ähnliche Verpflichtung für alle ableiten zu können. Damit aber bedeutet sein Begriff von „Freiheit“ dann nicht mehr individuelle Freiheit. Vielmehr ist die oder der Einzelne in dieser Sicht, ganz der protestantischen Ethik folgend, auf einen gesellschaftlich nützlichen Platz berufen. Untermauert wird diese Vorstellung mit fast schon demagogischen Beispielen, die einer Predigt entnommen sein könnten, und ein dem Menschen quasi angeborenes Bedürfnis unterstellen, sich für andere einsetzen zu dürfen. Darin, dass die/der Einzelne sich für geliebte Menschen (Partner, Partnerin, Kinder) verantwortlich fühle und bereit sei, sich für diese zu opfern, zeige sich ein menschliches Grundbedürfnis zur Verantwortung für andere, für die Gesellschaft, für die Menschheit: „Wir begreifen: Wir sind geboren zur Lebensform der Bezogenheit.“ (S. 29) Die Fähigkeit des Menschen, Verantwortung für andere zu übernehmen, wird bei Gauck zur angeborenen Verpflichtung: „Unsere Fähigkeit zur Verantwortung ist somit nicht etwas, das durch Philosophen, Politiker oder Geistliche quasi von außen in unser Leben hineingebracht würde, sie gehört vielmehr zum Grundbestand des Humanum. Wir verlieren uns selbst, wenn wir diesem Prinzip nicht zu folgen vermögen.“ (S. 36)
Es ist nichts dagegen einzuwenden, andere zu mehr Verantwortung und Engagement anspornen zu wollen. Aber darüber hinaus in beiden eine Verpflichtung zu sehen, durch die sich erst die Freiheit des Menschen offenbare, erinnert fatal an den Aktivbürger der antiken griechischen Polis; es erinnert an die Pflicht zur Beteiligung in kollektivistischen Systemen und ist schlicht eine Anmaßung. Damit erhebt Gauck seine persönliche Meinung zum gesellschaftlichen Imperativ. Individuelle Freiheit ist jedenfalls etwas anderes. Aus gutem Grund kennen moderne demokratische Staaten keine Wahlpflicht mehr, sondern nur ein Wahlrecht. Die Freiheit des mündigen Bürgers zeigt sich, anders als der Bundespräsident zu glauben scheint, gerade darin, nicht mittun zu müssen, sich nicht beteiligen zu müssen, sondern ein Recht darauf zu haben, in Ruhe gelassen zu werden. Die Forderung, nur gut handeln zu dürfen, also Freiheit nur in einer Richtung nutzen zu dürfen, stellt – ganz abgesehen von dem philosophischen Problem, was denn nun gut und richtig ist – die Freiheit prinzipiell in Frage. Freiheit verdient diesen Namen nur, wenn sie die/den Einzelnen nicht nur dazu ermächtigt, richtig zu handeln, sondern auch dazu, falsch zu handeln, nicht nur gut, sondern auch schlecht. Verantwortung besteht dann allein darin, bereit zu sein, die Folgen des eigenen Handelns zu tragen. In Freiheit handeln heißt, selbst-verantwortlich zu handeln.
PS: Der Vollständigkeit meiner Kritik halber sei aber auch erwähnt, dass seine Ausführungen zu Toleranz, Menschenrechten und Europa im letzten Viertel des Bändchens auf dem knappen Raum äußerst prägnant und präzise den Kern der Probleme treffend, dargestellt sind.