Folgenden Vortrag habe ich auf einer Veranstaltung mit dem Titel „Islamfaschismus“ gehalten. Wie sind der Islamismus und das iranische Regime begrifflich zu fassen? von Stop the Bomb am 15. Oktober 2014 in Wien gehalten.
Es geht bei der folgenden Kritik um den Begriff des „islamischen Faschismus“ oder „Islamfaschismus“, nicht um das Buch von Hamed Abdel-Samad, dessen Analyse der Verbindungen der Muslimbrüder zu Nationalsozialisten und italienischen Faschisten und des Islamismus insgesamt ich teile. Sein Buch sei an dieser Stelle empfohlen: Hamed Abdel-Samad, Der islamische Faschismus. Eine Analyse, München 2014.
Der Begriff „Islamfaschismus“ ist griffig, leicht zu merken und hat sich auch recht schnell in der Debatte durchgesetzt, aber als Historiker, der lange zu den Themen Antisemitismus und Nationalsozialismus gearbeitet hat, halte ich bereits die Subsumierung des deutschen, italienischen, spanischen und österreichischen politischen Systems der 1930er Jahre unter dem gemeinsamen Begriff des Faschismus analytisch für falsch – bei den islamistischen Bewegungen sind die Unterschiede – bei allen Gemeinsamkeiten – meiner Meinung nach noch gravierender. Was keinesfalls bedeutet, dass der Islamismus weniger gefährlich ist als der Faschismus.
Die Parallelen zwischen politischem Islam und Faschismus, die Hamed Abdel-Samad, der den Begriff „Islamischer Faschismus“ in den letzten Monaten populär machte, in seinem gleichnamigen Buch aufzeigt, sind auf den ersten Blick bestechend:
Führerprinzip, klare Teilung der Welt in Gut und Böse, Entmenschlichung des Gegners, Ablehnung von Aufklärung und Moderne, verschwörungstheoretischer Blick auf die Welt, verbunden mit Verfolgungswahn und einem permanenten Gefühl der Demütigung durch den Rest der Welt bei gleichzeitigem Glauben an die eigene Überlegenheit, Weltherrschaftsanspruch, Militarisierung der Gesellschaft, Leben als Kampf und Rückwärtsgewandtheit mit Blick auf eine mythisch überhöhte glorreiche Vergangenheit.
Trotz dieser und vieler weiterer Parallelen zwischen beiden politischen Systemen ist der Begriff des Faschismus, der eine europäische politische Strömung der ersten Hälfte des 20. Jh. beschreibt – und das schon recht ungenau, werden doch die durchaus unterschiedlichen Systeme in Italien, Spanien und Deutschland damit bezeichnet –, meiner Meinung nach nicht geeignet, der politisch-religiösen Bewegung in der islamischen Welt gerecht zu werden. Viele der aufgelisteten Parallelen sind allein dem Umstand zu verdanken, dass die frühen islamistischen Gruppen in den faschistischen Bewegungen Italiens und Deutschlands Vorbilder für einen erfolgreichen politischen Kampf sahen und die Methoden dieses Kampfes kopierten. Die Subsumierung der islamistischen Bewegung unter dem Begriff Faschismus übersieht aber, dass diese Methoden in etwas genuin Eigenes, in ein religiöses Erlösungskonzept, integriert wurden. Die daraus resultierende Verschmelzung einer säkularen politischen Religion mit einer religiösen Offenbarung brachte etwas hervor, das in wesentlichen Punkten vom europäischen Faschismus abweicht.
Der Faschismus vertritt, bei aller religiösen Aufladung und Heilserwartung, die ideologischen Bewegungen eigen ist, ein säkulares politisches Konzept, der Islamismus hingegen ein religiöses. Der Faschismus strebt nach der Weltherrschaft, um die perfekte Gesellschaft, ein Paradies auf Erden, zu errichten, während der Islamismus die Weltherrschaft anstrebt, um ein Gottesreich zu erschaffen, dessen Endziel ein jenseitiges Paradies ist. Was ähnlich klingt, bringt auf gesellschaftlicher Ebene einige Unterschiede mit sich. Eine nach göttlichen, als ewig gedachten und somit nicht verhandelbaren Geboten gestaltete Gesellschaft muss wesentlich uniformer und totalitärer sein als eine faschistische. An der Macht greift der politische Islam daher bis in die privatesten Lebensäußerungen der Menschen ein und lässt keine Rückzugsorte für abweichendes Verhalten mehr zu. Kleidung, Essen und alltägliche Verrichtungen werden bis ins Detail vorgeschrieben. Der Tag wird nach religiösen Vorgaben durchgestaltet, das Nichteinhalten der Gebetszeiten oder der Speisevorschriften wird bestraft. Wurde im Faschismus jede Regung gegen die herrschende Ordnung sanktioniert, bei gleichzeitig weitgehender Duldung privater Rückzugsorte, kann es solche im Gottesstaat per Definition nicht geben, denn selbst die im Privaten abweichende Lebensäußerung ist ein Verstoß gegen Gottes Gebote und damit automatisch auch gegen die herrschende Ordnung – ein unverheiratetes Paar im gleichen Raum, ein zu kleines Kopftuch, Alkohol im Schrank, Musik, etc. Dieser Unterschied zeigt sich am deutlichsten in einer Behörde wie der Religionspolizei im Iran.
Zum Islamischen Staat muss an dieser Stelle allerdings angemerkt werden, dass seinem Propagandaapparat der Werbewert eines irdischen Paradieses durchaus bewusst zu sein scheint, denn als solches lässt er das von ihm kontrollierte Gebiet in Werbevideos beschreiben, bis hin zu Formulierungen wie „eine einzige große Party“.
Das Phänomen des politischen Islam lässt sich besser fassen, wenn man es als islamische Reaktion auf die Moderne begreift. Die Moderne zeichnet sich, beginnend mit der Aufklärung, in erster Linie durch eine Individualisierung der Gesellschaft aus, durch die Herauslösung der/des Einzelnen aus den traditionellen kollektivistischen Bindungen an Familie, Clan und Stand. Erst durch diesen Schritt wurde die Formulierung von Menschenrechten möglich, von Rechten also, die dem Einzelnen aufgrund seines Mensch-Seins zustehen und nicht aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe. Dieser Akt der Befreiung des Individuums, sein Austritt aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit, wie Kant es nannte, wurde aber nicht von allen als Befreiung empfunden, sondern auch als Verlust des Schutzes durch eben jene traditionellen Bindungen. Die damit einhergehende Eigenverantwortung löste Ängste und Widerstände aus.
Mit der Befreiung des Individuums wurden zugleich jene politischen Bewegungen geboren, die das Individuum wieder in den Schoß des Kollektivs zurückdrängen wollten. Die Auseinandersetzung zwischen diesen beiden Bewegungen ist Teil der europäischen Geschichte der letzten gut 200 Jahre, vom jakobinischen Terror bis zu den großen ideologischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts. Nationalismus, Kommunismus und Faschismus heiligten unisono das Kollektiv.
Mit dem Einbruch der Moderne in die islamische Welt kam es dort ebenso zu Widerständen, die eine ähnliche Entwicklung auslösten – und es ist sicher kein Zufall, dass ein Geburtsort des politischen Islam in Ägypten liegt, in jenem islamischen Land, das 1798 durch Napoleon eine der ersten und vermutlich die traumatischste Niederlage gegen die europäische Moderne erlitt, eine Niederlage, die noch dadurch verstärkt wurde, dass Napoleon nicht von ägyptischen (islamischen) Heeren wieder aus dem Land geworfen wurde, sondern von den Briten unter Admiral Nelson. In der Folge war Ägypten das erste islamische Land, dem ab den 1810er Jahren unter der Herrschaft Muhammad Alis eine Modernisierung von oben verschrieben wurde.
Kommunismus, Faschismus und Islamismus sind unterschiedliche kollektivistische Reaktionen auf die Herausforderungen der Moderne. Alle drei Bewegungen verachten das Individuum, aber sie stellen ihm – bei vielen anderen Unterschieden – ein je anderes Kollektiv gegenüber: Der Kommunismus bezieht sich auf die Klasse, der Faschismus auf das Volk oder die Nation und der Islamismus auf die Gemeinschaft der Gläubigen. An diesem Punkt ist der Islamismus sogar näher am Kommunismus, als am Faschismus, denn sein Kollektiv ist, wie jenes des Kommunismus, antinational und überethnisch und damit prinzipiell für alle Menschen anschlussfähig, was das faschistische qua Definition nicht ist. Der Unterschied zwischen den beiden säkularen europäischen Antworten und der religiösen islamischen Antwort auf die Moderne findet seine Ursache in der Geschichte. Der Weg zurück in ein religiöses Kollektiv war durch die weitgehende Säkularisierung in Europa verschlossen, wiewohl es Ansätze dazu in Österreich und Spanien gegeben hat. In der islamischen Welt hingegen, in die die Moderne von außen hineingetragen wurde, war gerade die Rückbesinnung auf die Religion eine Besinnung auf das Eigene. Das macht vermutlich einen Teil des Erfolges des Islamismus gegenüber jenen Versuchen aus, europäische politische Kollektivismen wie den Sozialismus oder den Nationalismus in der islamischen Welt zu etablieren, die letztlich alle gescheitert sind. Und so, wie es analytisch falsch wäre, den Kommunismus als linken Faschismus zu bezeichnen – obwohl sich auch hier Parallelen finden lassen – scheint es ebenso falsch, den Islamismus als islamischen Faschismus zu bezeichnen.