Manche Politiker haben augenscheinlich Schwierigkeiten mit den Grund- und Menschenrechten. Der deutsche Innenminister Hans-Peter Friedrich etwa phantasiert von einem „Supergrundrecht“ namens Sicherheit, das alle anderen Grundrechte in den Schatten stelle. Als ausgebildeter Jurist sollte er es wahrlich besser wissen.[1] Die österreichische Justizministerin Beatrix Karl (ÖVP) wiederum, ebenfalls Juristin, scheint die Grundprinzipien europäischer Rechtsordnungen nicht zu kennen, obwohl sie als außerordentliche Universitätsprofessorin sogar Vorlesungen gehalten hat.
Zur Vorgeschichte: Anfang Mai dieses Jahres wurde ein 14jähriger Untersuchungshäftling in der Justizanstalt Josefstadt von zwei älteren Jugendlichen in der Zelle mit einem Besenstiel vergewaltigt. Am 25. Juni machte die Wiener Wochenzeitung Falter den Fall publik. Die Wiener Jugendrichterin Beate Matschnig hatte dem Falter von diesem Fall und weiteren Missständen in der Jugendhaft berichtet und dabei von Folter gesprochen, die „die Jugendlichen aufgrund erbärmlicher Haftbedingungen zu erleiden hätten.“ Von all dem wollte Justizministerin Beatrix Karl nichts wissen, erklärte die Tat als einen bedauerlichen Einzelfall und meinte „Haft ist kein Paradies, aber die Zustände waren nie besser.“ In Anbetracht der Tatsache, dass das Justizministerium seit vier Jahren immer wieder von besorgten Beamten über schwere Missstände in der Jugendabteilung der Justizanstalt Josefstadt informiert wurde, ist diese Aussage nur schwer nach zu vollziehen. Hinzu kommt eine Studie des Ludwig Boltzmann Instituts für Menschenrechte („Jugendliche im Strafvollzug – Gewalterfahrungen und Möglichkeiten der Veränderung aus Perspektive der Betroffenen“), die im April dieses Jahres im Rahmen des EU-Projekts „Ending Violence against Children in Custody“ veröffentlicht wurde. Unter den Förderern der Studie wird unter anderem auch das österreichische Justizministerium aufgelistet. Aber scheinbar sind die Studienergebnisse nicht bis oben vorgedrungen. Zu den Zuständen in der Untersuchungshaft der Haftanstalt Josefstadt schreiben die Autoren:
„In Untersuchungshaft passiert die Gewalt dort, wo sie keiner sieht, nämlich in der Zelle hinter verschlossenen Türen. Im Unterschied zur Jugendhaftanstalt, wo sich die Insassen in ihren Einzelzellen aufhalten, sind die Jugendlichen in Untersuchungshaft oft zu viert untergebracht. Gerade für junge Erwachsene gibt es weniger Angebote zur Beschäftigung, sie können dann am Nachmittag eine Stunde im Hof spazieren gehen, was aber nur von wenigen genutzt wird.“ Und: „In den Zellen kommt es teilweise zu massiven Übergriffen, auch in Form von sexuellem Missbrauch und Misshandlungen, und die Angst vor Repressalien durch die Mithäftlinge hält die Jugendlichen davon ab, solche Vorfälle an das Personal zu melden.“
Als Maßnahmen zur Verbesserung der Situation werden in der Studie u.a. folgende Empfehlungen gegeben: Unterbringung von höchstens zwei Jugendlichen pro Zelle, mehr Kontakt zu Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern, mehr Zeit außerhalb der Zelle, mehr sportliche Aktivitäten. Bis zum Tag des Falter-Berichts ist nichts davon umgesetzt worden.
Nur um es noch einmal zu betonen: Ein 14jähriger Jugendlicher wurde vergewaltigt, während er sich in einer Haftanstalt in der Obhut des Staates befand. Und dies war kein Einzelfall. Alleine in diesem Jahr sind vier Fälle sexueller Übergriffe an Jugendlichen in Gefängnissen angezeigt worden, die Dunkelziffer dürfte sehr viel höher sein. So heben die Autoren der Studie hervor, dass „Verrat“ dem Ehrenkodex im Gefängnis widerspricht und von anderen Gefangenen sanktioniert wird. Die meisten derartigen Fälle werden also nie angezeigt.
All diese Erkenntnisse blieben offensichtlich völlig unbemerkt von der Justizministerin, dabei besteht ihre Aufgabe unter anderem darin, die Vorgaben der UN-Kinderrechtskonvention umzusetzen. In § 19 heißt es:
Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs-, Sozial- und Bildungsmaßnahmen, um das Kind vor jeder Form körperlicher oder geistiger Gewaltanwendung, Schadenszufügung oder Mißhandlung, vor Verwahrlosung oder Vernachlässigung, vor schlechter Behandlung oder Ausbeutung einschließlich des sexuellen Mißbrauchs zu schützen, solange es sich in der Obhut der Eltern oder eines Elternteils, eines Vormunds oder anderen gesetzlichen Vertreters oder einer anderen Person befindet, die das Kind betreut.“
Die Ministerin weist dennoch jede Verantwortung weit von sich: „Ich entschuldige mich gerne bei ihm, aber ich sehe da nicht meine Schuld darin“, antwortete sie auf eine entsprechende Frage in dem von Armin Wolf am 26. Juni geführten ORF-Interview (YouTube). Kurz zuvor hatte die in jeder Hinsicht überforderte Justizministerin ihr fragwürdiges Rechtsverständnis bereits mit folgendem Satz unter Beweis gestellt: „wir sprechen hier von Jugendlichen, die eine schwere Straftat begangen haben, sonst wären sie nicht in U-Haft genommen worden.“[2] Rund 250 Jahre Rechtsgeschichte sind an Frau Karl ohne Erkenntnisgewinn vorüber gegangen. Cesare Beccaria schrieb 1764 in seinem einflussreichen Buch „Über Verbrechen und Strafen“: „Ein Mensch kann vor dem Urteilsspruch eines Richters nicht schuldig heißen noch vermag die Gesellschaft ihm den öffentlichen Schutz zu entziehen […] unschuldig nämlich ist nach den Gesetzen ein Mensch, dessen Verbrechen nicht bewiesen ist.“[3] In Artikel 11 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte findet sich diese Forderung Beccarias wieder: „Jeder Mensch, der einer strafbaren Handlung beschuldigt wird, ist solange als unschuldig anzusehen, bis seine Schuld in einem öffentlichen Verfahren, in dem alle für seine Verteidigung nötigen Voraussetzungen gewährleistet waren, gemäß dem Gesetz nachgewiesen ist.“ Die Unschuldsvermutung findet sich auch in Artikel 6 Absatz 2 der EMRK, die in Österreich Verfassungsrang hat. Zusätzlich heißt es in §8 StPO: „Jede Person gilt bis zu ihrer rechtskräftigen Verurteilung als unschuldig.“ Diese Vermutung der Unschuld bis zur Feststellung der Schuld in einem öffentlichen Gerichtsverfahren ist ein Grundprinzip jedes modernen Rechtssystems. Dass mag an diversen Stammtischen nicht beherzigt werden, aber eine Juristin und Justizministerin, die dieses Prinzip öffentlich missachtet und ihre Verantwortung für den Schutz der ihr anvertrauten Häftlinge zynisch leugnet, ist ganz offensichtlich auf dem falschen Posten.
[1]Einen lesenswerten Artikel zu Friedrichs „Supergrundrecht“ hat Rechtsanwalt Heinrich Schmitz auf The European geschrieben: Hans-Peter Friedrichs Zaubertrick.
[2]Ab ca. Min. 3:20.
[3]Cesare BECCARIA, Über Verbrechen und Strafen, Nach der Ausgabe von 1766 übersetzt und herausgegeben von Wilhelm Alff, Frankfurt/Main; Leipzig 1998, S. 92.
danke, großartig auf die wesentlichen Punkte gebracht! Ronald Schmutzer