Je nachdem, in welchen Kreisen man diskutiert, offenbaren sich unterschiedliche Ansichten über die Frage „Was ist Kultur und wie prägt sie Mensch und Gesellschaft?“. In meinem beruflichen Beschäftigungsfeld, das eher von Historiker/innen und Kulturwissenschaftler/innen geprägt ist, ist die Untersuchung kultureller Phänomene und deren Auswirkungen auf Geschichte, Menschheitsentwicklung und die verschiedenen Ausformungen von Gesellschaften wesentlicher Bestandteil der Forschung. In sozial- und politikwissenschaftlichen Instituten, insbesondere in den links und multikulturalistisch (nicht zu verwechseln mit multikulturell[1]) ausgerichteten, ist die Beschäftigung mit dem Thema häufig tabubelastet und der Vorwurf des „Kulturalisierens“ und – damit verbunden – einer rechten Gesinnung schnell zur Hand.
Einige Gedanken zu Kultur und ihrem Einfluss auf Menschen und deren Handeln.
Was ist Kultur? Sie kann zunächst als gestaltendes Handeln von Menschen, als die Gesamtheit der von Menschen hervorgebrachten Leistungen und die das Zusammenleben gestaltenden Regeln verstanden werden.[2] Diese Leistungen und Regeln bezeichnen wir aber nur dann als Kultur, wenn sie mehr sind als kurzfristige Blitze im Lauf der Geschichte; zur Kultur werden sie dadurch, dass sie innerhalb einer Gruppe tradiert und zu einem charakteristischen Bestandteil des Lebens werden. Wir wissen nicht, ob nicht irgendwer vor Urzeiten irgendwo für sich ein Rad erfunden und benutzt hat: Zum Kulturgut wurde es erst, als dieses Fortbewegungsmittel von einer Gruppe angenommen, genutzt und weitertradiert wurde. Somit können wir Kultur auch als die Gesamtheit des tradierten Wissens einer Gruppe von Menschen bezeichnen. Wissen in diesem Zusammenhang meint umfassendes Wissen, also nicht nur das Wissen von Fakten und Techniken, sondern auch das Wissen vom Leben, vom Universum und dem ganzen Rest; Wissen meint Wissen-von-der-Welt, mithin eine bestimmte Weltsicht. Des Weiteren bezeichnet Wissen nicht allein „richtiges“ Wissen, sondern auch „falsches“. Glauben die Menschen einer Kultur, die Erde sei eine Scheibe um die sich die Sonne drehe, so ist das ihr Wissen von der Welt und beeinflusst ihr Handeln. Sie entwickeln eine ganz reale Angst, vom Rand dieser Scheibe herabzufallen, wenn sie mit ihren Schiffen zu weit auf den Ozean hinaussegeln. Auch heute machen wir mitunter die Erfahrung, dass etwas, das wir für richtig hielten, also zu wissen glaubten, sich als falsch erweist. So glaubten wir lange, das Universum würde irgendwann, wenn es den Punkt seiner größten Ausdehnung erreicht hätte, bedingt durch die Schwerkraft wieder in sich zusammenfallen. Neueste Beobachtungen deuten allerdings darauf hin, dass die Geschwindigkeit der Ausdehnung nicht etwa ab- (was auf diesen Punkt hindeuten würde), sondern vielmehr zunimmt. Daraus schließt die Wissenschaft, dass sich das Universum immer schneller und immer weiter ausdehnen wird, bis nur noch einzelne ausgebrannte Sterne einsam durch die unendlichen und kalten Weiten des Alls dahintreiben – der Kältetod. Niemand kann vorhersagen, wie viel vom heutigen Wissen in hundert Jahren noch Bestand haben wird.
Die unterschiedlichen Kulturen haben je eigene Weltsichten hervorgebracht, weil sie unterschiedliches Wissen von der Welt erlangt haben. Daraus ergeben sich wiederum unterschiedliche Strategien der Weltbewältigung, also des Umgangs mit der Welt. Ein weit zurückliegendes Beispiel: Zwischen dem 8. und 3. Jahrhundert v.Chr. stießen mehrere große Kulturen auf eine neue Erkenntnis – wer wen beeinflusste oder ob unabhängig voneinander ist zwar Gegenstand von Forschungen, wird sich vermutlich aber nicht mit letzter Sicherheit erschließen lassen. Es waren sehr unterschiedliche Kulturen, die eine Entwicklung vollzogen, die Karl Jaspers den achsenzeitlichen Bruch nannte: Die Griechen der Poliswelt, die Inder, die Chinesen, die Juden und die Perser. Sie alle machten in diesem Zeitraum einen Erkenntnissprung, der sie vom Mythos in die Zeit versetzte; sie wurden sich ihres In-der-Zeit-Seins bewusst, erkannten Zeit als ein „ewig“ ablaufendes Band. Gegenüber den mythischen, meist zyklischen Zeitmodellen, wie etwa die Ägypter sie noch länger beibehalten sollten, erkannten die genannten Kulturen den Lauf der Geschichte, den Zeitpfeil, und ihren Platz in derselben. Diese Erkenntnis, dieses Sich-Bewusstwerden, wurde unterschiedlich verarbeitet und führte, abhängig vom Vorhandenen, zu unterschiedlichen (Weiter-)Entwicklungen in diesen Kulturen. Die Griechen nahmen sie zum Anlass, sich mit Geschichte zu befassen. Herodot (ca. 484-425) gilt als Vater der Geschichtsschreibung. Im folgenden Jahrhundert sollten die Griechen noch etliche weitere berühmte Historiker hervorbringen, darunter Thukydides (ca. 454-396), Xenophon von Athen (ca. 426-355) und Ephoros von Kyme (ca. 400-330), der den ersten Versuch einer Universalgeschichte unternahm. Im Hinduismus, aber auch im Buddhismus, verschmolz der Zeitpfeil mit dem einst zyklischen Weltmodell, wobei das Zyklische auf die Ebene des individuellen Seins herabsank. Die Welt bewegt sich nach dieser Vorstellung vorwärts, der Einzelne aber durchläuft wiederkehrende Zyklen von Geburt, Tod und Wiedergeburt, bis auf einem nach oben steigenden Weg immer „bessere“ Wiedergeburten gelingen, dadurch der Zyklus durchbrochen und die eigene, individuelle Geschichte beendet werden kann. Die persischen Zoroaster und das Judentum mit seiner prophetischen Tradition wiederum schlossen aus der Erkenntnis des Zeitpfeils auf einen Anfang und – noch wichtiger – auf ein Ende, oder besser, auf ein Ziel der Geschichte. Welt war für sie der (Leidens-)Weg von einem paradiesischen Anfang zu einem Ende in Weltgericht oder apokalyptischem Endkampf.
Die unterschiedlichen Weltdeutungen erforderten eine je andere Strategie der Weltbewältigung. Man könnte auch sagen, dass die Menschen verschiedener Kulturen in gewisser Weise in verschiedenen Welten lebten. Eine in einem ewigen Kreislauf gefangene Welt, in der Mensch und Gesellschaft dafür Sorge zu tragen haben, dass dieser als harmonisch angesehene Lauf der Welt nicht gestört wird (Altes Ägypten),bedingt zwangsläufig ein anderes Handeln als etwa jene Welt im alten Israel, die sich durch die Geschichte quält, bis irgendwann in (naher) Zukunft der Messias erscheint. Die Handlungen der Menschen orientieren sich daran, in welche der verschiedenen Welten sie geboren wurden, in welcher sie leben müssen. Davon wird ihr Denken zu einem großen Teil bestimmt.
Mit diesem Beispiel ist bereits ein Unterscheidungsfaktor zwischen Kulturen genannt: Religion. Ein anderer ist Sprache, denn erst eine gemeinsame Sprache ermöglicht die Weitergabe von Wissen. Sprache unterscheidet von anderen. Sprache ist exklusiv. Sprache und Religion grenzen Kulturräume voneinander ab. Ein Kulturraum meint ein geographisches Gebiet, in dem Menschen (weitgehend) der gleichen Kultur leben. Allerdings sind die Grenzen zwischen verschiedenen Kulturräumen, wenn auch in unterschiedlichem Maße, fließend – es sei denn ein Meer oder ein unüberwindlicher Gebirgszug trennt die Räume voneinander. Und natürlich ist die Kultur eines Kulturraums nicht homogen, wenngleich sie über distinktive Züge verfügt, die es erlauben, von einer Kultur zu sprechen. Sie kann sowohl regional, als auch schicht- oder gruppenspezifisch unterschiedlich ausgeprägt sein. Das tradierte Wissen variiert sowohl regional, als auch in verschiedenen gesellschaftlichen Schichten und Gruppen. Gesellschaftliche Subkulturen bedienen sich dabei fast immer eigener Sprachen, die für Außenstehende nur schwer verständlich sind. Das gilt sowohl für Dialektgebiete, als auch etwa für Jugendkulturen.
Das, was allgemein die westliche Kultur genannt wird, hat keine gemeinsame Sprache. Dennoch kann Westeuropa als eigener kultureller Raum angesehen werden. Das heutige Westeuropa entspricht weitgehend jenem Gebiet, das nach der Reichsteilung des Römischen Reichs dessen westliche Hälfte war, und die Grenzlinie, die heute das Europa der Westkirche (katholisch/protestantisch) von jenem der orthodoxen Ostkirche trennt, ist nahezu dieselbe wie jene vor knapp 1700 Jahren zwischen West- und Ostrom. Westeuropa ging historisch aus dem weströmischen Reich hervor und stellte trotz dessen Zerfall in der Mitte des 5. Jahrhunderts immer eine Einheit dar: Es war das Gebiet der Katholischen Kirche.[3] Dieses Gebiet war sowohl über die Religion als auch über eine gemeinsame Sprache verbunden, zumindest was die Kirche selbst und die Welt der Gelehrten betraf: Latein.[4] Latein war die Sprache der Universitäten. Daher konnten Studenten im 13. Jahrhundert ihre Studien etwa in Paris beginnen, dann nach Bologna wechseln und vielleicht auch noch ein paar Semester in Oxford oder Salamanca studieren. Wenn Johannes Kepler um 1590 Briefe an Galileo Galilei schrieb, so schrieb er sie auf Latein, und wenn Erasmus von Rotterdam Anfang des 16. Jahrhunderts ein Traktat verfasste, konnte es die gesamte europäische Gelehrtenwelt lesen. Die philosophischen Auseinandersetzungen des Mittelalters und der frühen Neuzeit wurden über alle Länder- und Fürstentumsgrenzen hinweg auf Latein geführt, ja fast das gesamte europäische Geistesleben dieser Zeit war lateinisch und schuf im Laufe der Jahrhunderte jene Kultur, die wir heute europäisch nennen. Dieses Europa besteht zwar aus vielen Ländern mit jeweils auch spezifischen Kulturen, die sich in den Regionen noch weiter spezifizieren, hat aber ebenso eine überspannende Kultur hervorgebracht, deren stärkster Ausdruck vielleicht die mit der Scholastik beginnende Entwicklung der Vorstellung von der Freiheit des Einzelnen ist.[5]
Religion ist vermutlich der stärkste kulturbestimmende Faktor, wenngleich Kultur und Religion sich menschheitsgeschichtlich kaum voneinander trennen lassen, wenn man Religionen als alte und sich weiterentwickelnde Ideen und somit als weltsichtprägend betrachtet. Zunächst vermittelt jede Religion ein Bild der Welt, sie vermittelt Wissen von der Welt (von ihrer Entstehung, ihrer Beschaffenheit und von dem, was die Götter/der Gott wollen/will…) und damit verbundene Werte (Vorstellungen von Gut und Böse…). Gleichzeitig stellt sie die erforderlichen Strategien zur Weltbewältigung zur Verfügung (Gebote und Verbote). Zudem sind Religionen, im Gegensatz zu anderen kulturdeterminierenden Faktoren, konservativ im Wortsinne, denn das entspricht ihrem Anspruch als umfassender und immer gültiger Erklärung. Sie wandeln sich nur langsam, meist zu langsam, als dass der Wandel im Zeitraum eines Menschenlebens erfahrbar wäre. Aus diesem scheinbaren Ewig-Sein ziehen sie letztlich ihre Autorität, es macht sie zu einem stabilen und über lange Zeiträume hinweg wirksamen Pfeiler von Kultur. Das hat zur Folge, dass kulturelle Besonderheiten, Regeln des Zusammenlebens oder Vorstellungen vom guten, vom richtigen Leben, die ursprünglich durch die Religion geprägt wurden, auch dann weiter wirkmächtig bleiben, wenn das Religiöse längst in den Hintergrund getreten ist. Wir erleben das gegenwärtig in der mehr oder weniger säkularisierten westlichen Welt. Im Zuge der Säkularisierung wurden die Wertvorstellungen einer zuvor dominierenden Religion nicht beseitigt, sondern verweltlicht. Sie blieben Bestandteil europäischen Denkens. Die marxsche Vorstellung, um ein Beispiel zu nennen, eines Kampfes zwischen Bourgeoisie (die Bösen) und Proletariat (die Guten), der in einem Sieg des letzteren ende und in ein paradiesisches Zeitalter auf Erden (der Kommunismus, das Ende der Geschichte?) führe, erscheint in diesem Licht als eine säkulare Variante des apokalyptischen Endkampfes aus der Offenbarung des Johannes, dessen Ergebnis wir nun bereits im Diesseits erwarten dürfen. Anders gesagt: Die Vorstellung eines Kampfes von Gut gegen Böse ist dem europäischen Denken seit mindestens zwei Jahrtausenden immanent, sie ist Teil der europäischen Kultur und findet sich in vielen modernen Mythen und Erzählungen wieder. Ob Krieg der Sterne, Herr der Ringe oder Harry Potter – immer geht es um die in einen Endkampf mündende Auseinandersetzung des Guten mit dem Bösen und immer erregen gerade diese Geschichten eine breite Aufmerksamkeit. Ein in konfuzianischem oder buddhistischem Denken geschulter Zeitgenosse von Marx wäre vermutlich nicht auf diese Theorie gekommen, ginge es doch in seiner Vorstellung darum, Gegensätze in ein harmonisches Verhältnis zueinander zu bringen und nicht um die Austragung eines Entscheidungskampfes.
Allerdings ist Kultur keine statische Größe. Sie verändert sich vielmehr stetig, manchmal sogar sprunghaft, etwa in Umbruchszeiten wie der Reformation – wobei sich die Huhn-Ei-Frage stellt, ob ein Ereignis einen kulturellen Wandel ausgelöst oder ob nicht doch eher ein kultureller Wandel ein Ereignis ermöglicht hat. Technische Erfindungen, soviel steht fest, können einen schnellen kulturellen Wandel auslösen, wenn wir etwa an die Erfindung des Buchdrucks denken; eine der maßgeblichen Voraussetzungen für den schnellen Erfolg der Reformation. Die Wandlungsfähigkeit von Kultur liegt in ihrem Wesen als tradiertes Wissen begründet, denn dieses Wissen ist einem ständigen Wandel unterworfen. Allerdings lassen sich auch kulturelle Traditionen ausmachen, Teile dieses Wissens, die Jahrhunderte und Jahrtausende nahezu unverändert überdauern. Zu ihnen zählen Elemente aus der jeweiligen Religion, die mitunter sogar die erzwungene oder freiwillige Übernahme einer neuen Religion überdauern können. Daher auch die regional unterschiedlichen Ausprägungen der großen Religionen Buddhismus, Christentum und Islam. Sie stießen bei der Ausbreitung auf Vorhandenes, auf ältere Vorstellungen, die nicht zur Gänze ausgelöscht werden konnten, sondern in manchen Teilen umgeformt, umgedeutet und absorbiert wurden. So ist etwa der schiitische Islam, der sich wesentlich auf dem zoroastrisch geprägten Gebiet des ehemaligen persischen Reichs entwickelte, von dessen Kultur geprägt. Viele Elemente haben ihren Ursprung im Zoroastrismus, wie etwa die sehr ausgeprägte Priesterkaste oder die extreme Dichotomie von rein und unrein. Auch im Christentum finden sich viele Bräuche älterer Religionen. So fällt das christliche Weihnachtsfest nicht zufällig auf die Zeit der Wintersonnenwende, sondern ersetzt dort das altrömische und altgriechische Geburtsfest des Sonnengottes (Sol Invictus oder Helios-Aion), das ebenfalls am 25. Dezember gefeiert wurde. In Analogie zu diesem Fest des „unbesiegbaren Sonnengottes“ wird Jesus als das „Licht der Welt“ verehrt.
Kultur prägt unsere Vorstellung vom guten Leben. Eine Kultur, die Sexualität außerhalb der Ehe tabuisiert, um nur ein Beispiel zu nennen, wirkt sich zwangsläufig auf das Verhalten ihrer Mitglieder aus. Dieser Befund hat jedoch nichts mit einer Kulturalisierung des Menschen zu tun. Kultur ist nicht angeboren, sie hängt nicht an der Herkunft im biologischen Sinne; Kultur wird vielmehr anerzogen, mithin erworben. Und weil Menschen eine gewisse Neigung zum Festhalten am Bestehenden, Bekannten und Gewohnten haben, brechen vergleichsweise wenige aus den kulturellen Vorgaben ihrer Gesellschaft aus. Doch wie nicht nur die europäische Geschichte gezeigt hat, sind es oft diese Wenigen, die zur Initialzündung für weitreichende gesellschaftliche Entwicklungen werden können. Manchmal waren es ganze Gesellschaftsschichten, die Neues hervorbrachten und den Rest mitzogen. Das sich zunächst im protestantischen Bürgertum des 16. und 17. Jahrhunderts herausbildende Arbeitsethos erfasste nach und nach die gesamte Gesellschaft; es machte einen Unterschied, um das Bild der verschiedenen Welten noch einmal zu bemühen, ob ein Mensch in einer Welt lebte, deren Gott bestimmte Handlungen als Sünde mit Strafe im Jenseits bedrohte, gleichzeitig aber die Möglichkeit der Beichte oder des Erwerbs eines Ablasses eröffnete, oder ob er in einer Welt lebte, in der Sünden ein Leben lang angesammelt wurden; von der Prädestinationslehre ganz abgesehen, die davon ausgeht, dass Gott schon vor der Geburt beschlossen habe, ob der einzelne Mensch zu den Erwählten oder zu den Verworfenen gehört. Jede dieser Welten prägt den Einzelnen auf ihre Art und damit die Gesellschaft. Calvins Vorstellung von „Arbeit als Gottesdienst“ erscheint in einer katholischen Welt völlig abwegig.
Kultur ist etwas, das uns vom Tag unserer Geburt an vermittelt wird. Jedes Verbot, das unsere Eltern aussprachen und jedes ihrer Gebote war ein Teil jenes kulturellen Gefüges, in das wir hineingewachsen sind und das uns gleichzeitig ausgefüllt hat. Angefangen bei den kleinen Dingen des Alltags, etwa damit, ob wir mit Stäbchen, Messer und Gabel oder mit den Fingern essen (auch das sind Strategien der Weltbewältigung) oder was wir essen: Speisetabus sind ein wesentlicher Bestandteil von Kultur. Es gibt keinen plausiblen Grund, etwas Essbares nicht zu essen, außer die kulturelle Vorgabe, es nicht zu tun, sei diese nun religiös begründet oder nicht. Der Verzehr von Hunden und Katzen ist solch ein verbreitetes Tabu, ebenso das religiös begründete Tabu von Schweinefleisch oder auch Rindfleisch. Gerade an Speisetabus zeigt sich, wie stark der kulturelle Einfluss auf menschliches Handeln sein kann, denn der Tabubruch ist in der Regel mit Schuldgefühlen und körperlichen Reaktionen wie Ekel verbunden, wie wir sie etwa aus Berichten über Hungersnöte kennen, in denen Menschen zum Bruch von solchen Tabus gezwungen waren, wenn sie überleben wollten.
Kultur wirkt auf jede und jeden Einzelnen, indem sie über Erziehung (Eltern, Familie, Nachbarn, Schule, Religionsgemeinschaft…) das grundlegende Gerüst unserer Wertvorstellungen und eine bestimmte Art zu denken prägt. Das wirklich Spannende ist aber, was die oder der Einzelne mit dieser Prägung anfängt.
[1] siehe das Kapitel „Multikulturalismus“ in: Heiko Heinisch, Nina Scholz, Europa, Menschenrechte und Islam – ein Kulturkampf?, Wien 2012
[2] siehe ebenda, S. 33f.
[3] Das Ganze konnte hier nur sehr verkürzt wiedergegeben werden. Einige Gebiete im Norden und Osten Europas wurden erst in den folgenden 500 Jahren nach und nach christianisiert. Die Sachsen etwa wurden von Karl dem Großen nach einem langen Krieg im Jahre 804 unterworfen und zum Christentum gezwungen.
[4] Die Parallele zur Islamischen Kultur ist nicht zu übersehen: Eine gemeinsame Religion und eine gemeinsame Sprache sowohl für den Ritus, als auch für die gelehrte Konversation: Das Arabische.
[5] siehe das Kapitel „Menschenrechte“ in: Heinisch, Scholz, Europa, FN 1.