von Nina Scholz und Heiko Heinisch
Das Kölner Urteil ist auch Ausdruck einer gesellschaftlichen und rechtlichen Entwicklung, das Individuum in seinen Rechten gegenüber jedem Kollektiv zu stärken, eine Entwicklung die erst vor gar nicht allzu langer Zeit auch Kinder als eigenständige und mit Rechten ausgestattete Persönlichkeiten überhaupt erfasst hat. Die Autorin und der Autor dieses Beitrags halten das Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit für gewichtiger als das Recht einer Religionsgemeinschaft auf die Durchführung ihrer Rituale.
In unserem Anfang Juni dieses Jahres erschienenen Buch Europa, Menschenrechte und Islam – ein Kulturkampf? weisen wir im Kapitel “Religionsfreiheit” auf die Problematik der Kollision von Menschenrechten hin, wie sie in modernen Grundrechtsdemokratien immer wieder zu beobachten ist. Das betrifft z.B. die Kollision von Meinungsfreiheit und Religionsfreiheit, wie sie zuletzt breiter im sogenannten Karikaturenstreit diskutiert wurde, oder die Kollision des Persönlichkeitsrechtes (Art. 1 u. 2 GG) mit dem Recht auf Meinungsfreiheit, wie sie zum Alltag der Medienberichterstattung gehört und aktuell im Streit zwischen Papst und Titanic breitere Aufmerksamkeit erregte. In diesem Zusammenhang wird im Buch auch auf die rituelle Beschneidung eingegangen, allerdings nur am Rande, denn bis vor Kurzem schien uns dieses Problem zugegebenermaßen relativ unbedeutend, wenngleich wir im Rahmen der Arbeit auf diesbezügliche juristische, medizinische und innerreligiöse Diskussionen in den USA, Europa und Israel gestoßen waren. Nun führt ein Urteil des Landgerichts Köln, das die rituelle Beschneidung der Vorhaut eines Kindes als Körperverletzung wertet, zu kontroversen und emotionalen Debatten. Versuch einer Annäherung an ein heikles Thema.
Der Auslöser des Prozesses
Zwei Tage nach der rituellen Beschneidung eines 4jährigen durch einen Arzt treten bei dem Kind starke Nachblutungen auf. Nachblutungen gehören zu den häufigsten Komplikationen einer Zirkumzision, zu denen es, je nach Quelle, bei ca. 1-6% der beschnittenen Jungen kommt. Meistens sind es leichte Blutungen, die laut Aussagen von Ärzten durch Anlegen eines Druckverbandes gestillt werden können, in seltenen Fällen kommt es zu so starken Komplikationen, wie es hier der Fall war. Die Mutter bringt daraufhin ihren Sohn in die Universitätsklinik Köln. Aus den Angaben der Mutter, die kaum Deutsch spricht und verängstigt wirkt, schließen die Ärzte, dass die Beschneidung unsachgemäß von einem Nichtmediziner vorgenommen wurde und erstatten Anzeige. Die Staatsanwaltschaft beginnt zu ermitteln. Es stellt sich heraus, dass ein Arzt die Beschneidung vorgenommen hatte, gegen den die Staatsanwaltschaft nun Anklage wegen des Verdachts auf Körperverletzung erhebt. Wie sich in der vergangenen Woche herausstellte, mussten die Ärzte eine Operation unter Vollnarkose vornehmen. Das Kind verbrachte insgesamt 10 Tage im Krankenhaus, dreimal musste der Verband unter Narkose gewechselt werden. Diese Informationen lagen sowohl der Staatsanwaltschaft als auch dem Gericht vor, drangen aber erst jetzt an die Öffentlichkeit. Das Amtsgericht Köln sprach den behandelnden Arzt, dem von einem Gerichtsgutachter attestiert wurde, die Beschneidung nach bestem medizinischen Wissen vorgenommen und die Komplikationen nicht zu verantworten zu haben, vom Vorwurf der Körperverletzung frei. Die Beschneidung an sich sei zum Wohle des Kindes geschehen, “da die Zirkumzision als traditionelle Handlungsweise der Dokumentation der kulturellen und religiösen Zugehörigkeit diene, womit auch einer Stigmatisierung des Kindes entgegengewirkt werde”, so die Urteilsbegründung.
Die Staatsanwaltschaft geht in Berufung. Das daraufhin mit dem Fall befasste Landgericht Köln spricht den Arzt zwar ebenfalls frei, aber die Begründung des Freispruchs unterscheidet sich fundamental von jener der Erstinstanz. Anders als das Amtsgericht sieht das Landgericht in der rituellen Beschneidung eine Körperverletzung des Kindes, die nicht seinem Wohle diene. Der Arzt habe jedoch nicht wissen können, dass die Beschneidung einen Strafbestand darstellt und sich daher in einem “unvermeidbaren Verbotsirrtum” befunden. Solange ein Fall nicht abschließend juristisch geklärt ist und Gerichte noch keine klare Position dazu bezogen haben, konnte der Arzt nicht davon ausgehen, dass seine Handlung strafrechtlich relevant ist. Da in der Sache ein Freispruch erfolgt war, legte der betroffene Arzt keine Rechtsmittel ein und das Urteil wurde rechtskräftig. Dadurch ist nun eine Situation entstanden, durch die jeder Arzt, der eine rituelle Beschneidung an einem Kind vornimmt, vom Strafbestand der Körperverletzung bedroht ist und keinen “Verbotsirrtum” mehr geltend machen kann.
Die Diskussion der letzten Jahre
Weder die Anklageerhebung durch die Staatsanwaltschaft noch das Urteil des Landgerichts Köln kommen so unerwartet, wie es auf den ersten Blick scheint. Die Frage, ob eine rituelle Beschneidung mit bestimmten Menschenrechten im Allgemeinen und Kinderrechten im Speziellen vereinbar ist und ob sie eine Körperverletzung darstellt, wird seit mehreren Jahren in einigen europäischen Ländern diskutiert, in medizinischen und juristischen Kreisen, sowie innerhalb von Kinderrechtsorganisationen. Holm Putzke, Professor für Strafrecht an der Universität Passau, hatte 2008 einen Fachartikel über die strafrechtliche Relevanz ritueller Beschneidungen veröffentlicht.[1] Ihm war eine “Leerstelle” in der Fachliteratur aufgefallen. Jede Ohrfeige, sei in Deutschland Gegenstand juristischer Erörterungen, so Putzke unlängst in einer Fernsehdiskussion. Bis vor wenigen Jahren habe sich niemand Gedanken darüber gemacht, dass eine Beschneidung eine mit Schmerzen verbundene, irreversible Verletzung sei. Mit dem Fehlen einer Auseinandersetzung argumentierte das Landgericht Köln seine Begründung für den Freispruch.
Etwa zeitgleich mit dem Beginn der Auseinandersetzung in juristischen Kreisen hatte auch der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinderchirurgie, Ulrich Hofmann wegen fehlender medizinischer Indizierung auf die mögliche Strafbarkeit der rituellen Beschneidung hingewiesen und Ärzten geraten, eine Beschneidung nicht als Wahleingriff, sondern nur nach medizinischer Indikation anzubieten.[2] Dies löste in Ärztekreisen eine breitere Debatte über die ethische Zulässigkeit der rituellen Beschneidung von Kindern aus. Schon vor dem Kölner Urteil hatte es Ärzte gegeben, die den Eingriff aus ethischen Gründen verweigerten.
Andere Länder
Schweden ist das bisher einzige europäische Land, das nach langer Debatte 2001 die Beschneidung gesetzlich geregelt hat: Bis zum Alter von zwei Monaten ist eine Beschneidung durch befähigte Personen mit staatlicher Zulassung erlaubt, also etwa durch den jüdischen Mohel. Nach dieser Frist darf sie nur noch von Ärzten und Ärztinnen und nur noch mit Betäubung vorgenommen werden. Das Gesetz sieht außerdem bei älteren Kindern (im Text heißt es: Sobald das Kind die nötige Reife erreicht hat) deren Zustimmung als zwingend notwendig an. Die schwedische Regelung scheint nicht bis ins Letzte rechtsphilosophisch durchargumentierbar, zeigt aber, dass man sich der grundsätzlichen Problematik bewusst war. Das Gesetz, vor allem die staatliche Überprüfung der Befähigung von Beschneidern, rief Widerstand von jüdischen und muslimischen Organisationen hervor. Der Jüdische Weltkongress sprach von der ersten “Beschränkung jüdischer religiöser Praktiken in Europa seit der Nazi-Ära.”
In Norwegen bekam die Debatte um rituelle Beschneidung im Mai dieses Jahres durch ein tragisches Ereignis unerwartete öffentliche Aufmerksamkeit: Zwei Tage nach der ärztlichen Beschneidung kam es bei einem zwei Wochen alten Baby zu schweren Komplikationen, an denen das Kind verstarb. Das Gesundheitsministerium fordert nun ein Gesetz, das den Eingriff nur noch in Kliniken des öffentlichen Gesundheitswesens (dafür jedoch auf Krankenschein) erlaubt, gleichzeitig aber die dortigen Ärzte verpflichtet, Beschneidungen durchzuführen. Die norwegische Ärztevereinigung hat gegen eine derartige Verpflichtung Widerstand angekündigt. In der Öffentlichkeit wird seither die Forderung nach einem Verbot der Beschneidung von Kindern diskutiert, vor allem Ärzte und die medizinische Fakultät der Universität in Oslo fordern ein solches.
Auch in Großbritannien und den Niederlanden wird die Beschneidung von Kindern schon länger kontrovers diskutiert.
Innerjüdische und innerislamische Diskussionen
In Israel, wo die rituelle Beschneidung von männlichen Neugeborenen zur täglichen Realität gehört, wird das Thema seit einigen Jahren verstärkt öffentlich diskutiert. Für die meisten Familien ist es selbstverständlich, einen Sohn am 8. Tag beschneiden zu lassen, nur etwa 2-3% der israelischen Eltern entscheiden sich dagegen, weitere 16% würden, nach einer Umfrage der Zeitung Ha’aretz (2006) lieber auf den Eingriff verzichten, wenn der gesellschaftliche Druck nicht wäre.[3] Die Kritiker der Beschneidung verweisen darauf, dass auch andere jüdische Gebote (etwa das Verbot, Schweinefleisch zu essen oder das Gebot der Schabbat-Ruhe) vernachlässigt werden können, ohne dass die “jüdische Identität” dadurch in Gefahr geriete.[4] Zirkumzision wird als überholter Brauch beschrieben, seine zentrale Bedeutung in Frage gestellt, und eine Umwandlung in einen symbolischen feierlichen Akt als Alternative vorgeschlagen.
Eine ähnliche Auseinandersetzung gibt es in jüdischen Gemeinden anderer Länder und hier vor allem in den USA. Bekanntestes Beispiel ist vielleicht die Internetplattform jews against circumcision, die mit Rabbinern in Nord- und Südamerika, Europa und Israel zusammenarbeitet, die statt der Beschneidung (Brit Milah=Bund der Beschneidung) die sogenannte Brit Shalom (=Friedensbund) als non-cutting ceremony anbieten.
Der amerikanische Filmemacher Eliyahu Ungar-Sargon drehte 2007 den Dokumentarfilm Cut, der in den USA und Israel in den Kinos lief und 2010 auf dem Jüdischen Filmfestival in Wien gezeigt wurde. Ungar-Sargon, aufgewachsen in einer orthodoxen jüdischen Familie, beleuchtet, um Ausgewogenheit bemüht, das Thema von allen Seiten: Er lässt Religiöse ebenso zu Wort kommen wie Nichtreligiöse, befragt Mediziner/innen, Psycholog/innen, eine Beschneiderin, Rabbiner, Verwandte und Betroffene. Der Film spiegelt auch die persönliche Auseinandersetzung des Filmemachers um die Frage wider, ob er die eigenen Söhne beschneiden lassen würde, an deren Ende er die Entscheidung fällt, keine Entscheidung für sein Kind fällen zu wollen. In einem Interview sagt er: “This is a decision that should be made by an individual, not for an individual.“
Anders als in Israel oder innerhalb jüdischer Gemeinden sind religiöse Themen im Islam weitaus Tabu beladener und können in den meisten islamischen Ländern in der Regel weder öffentlich noch sanktionsfrei diskutiert werden. Es ist aber zu vermuten, dass einige Muslime ähnliche Konflikte auszutragen haben. Die Autoren können hier nur auf nicht-repräsentative Privatgespräche zurückgreifen, aber in der Anonymität des Internet finden sich auch muslimische Seiten, die sich kritisch mit der Beschneidung von Kindern beschäftigen. Seit dem Kölner Urteil haben sich in Deutschland einige wenige Muslime und Musliminnen zu Wort gemeldet, die einen kritischen Umgang mit der Praxis anregen, die eigene Zerrissenheit beschreiben oder von der eigenen schmerzhaften Erinnerung berichten (etwa Seyran Ateş bei Anne Will, Najem Wali oder Ahmad Mansour) Vor allem aber in der Türkei gibt es derzeit eine, durch das Urteil ausgelöste, lebhafte Debatte im Internet, bei der erstmals öffentlich Kritik an der Praxis der Beschneidung von Kindern geübt wird. Soweit überblickbar, sind darin die Wahrung von Kinderrechten und das Mitleid mit den betroffenen Jungen die zentralen Argumente.
Anders als im Judentum, wo die Thora die Gläubigen darauf verpflichtet, alle männlichen Babys am 8. Tag nach der Geburt zu beschneiden, wird in der islamischen Überlieferung der Sunna kein bestimmter Zeitpunkt genannt. Türkische Jungen werden in der Regel bis zum 13. Lebensjahr beschnitten. Hier liegt vermutlich der Grund, warum auffallend viele Kritiker und Kritikerinnen des Kölner Urteils sich bei der Verteidigung der Religionsfreiheit vor allem auf die Beschneidung im Judentum konzentrieren. Das Argument der Religionsfreiheit kann für den Islam nicht so eindeutig herangezogen werden, da muslimische Jungen theoretisch auch später beschnitten werden könnten, denn das Kölner Urteil hat nicht die Beschneidung an sich zur Straftat erklärt, sondern die Beschneidung von nicht einwilligungsfähigen Kindern.
Strafrecht
Das Strafrecht betrachtet prinzipiell jeden Eingriff in den Körper eines anderen Menschen als Körperverletzung, also auch jede medizinische Operation. Letztere ist nur straffrei, wenn der Patient seine Zustimmung erteilt, bzw. wenn von dieser Zustimmung ausgegangen werden kann, wie etwa bei einem bewusstlosen Unfallopfer. Ist der Patient ein Kind, so liegt die Entscheidungsgewalt bei den Eltern. Sie sind juristisch gesehen in ihrer Entscheidung allerdings nicht frei, sondern an das Wohl des Kindes gebunden, dürfen also keine Entscheidung treffen, die dem Wohl des Kindes Schaden zufügt. Bei medizinisch notwendigen Operationen ist die Frage nach dem Wohl des Kindes meist eindeutig zu entscheiden, aber schon bei kosmetischen wird es problematisch. Dient das Anlegen abstehender Ohren dem Wohl des Kindes oder nicht? Hier wird meist mit psychisch negativen Folgen argumentiert, die dem Kind dadurch erwachsen könnten, dass es in der Schule gehänselt wird. Eine Grenzziehung ist nicht ganz einfach, selbst wenn sie sich an etwas zunächst scheinbar Eindeutigem wie dem “Wohl des Kindes” orientieren soll. Dient die rituelle Aufnahme eines Säuglings oder Kindes in eine Religionsgemeinschaft seinem Wohl oder nicht? – Eine Frage, die religiöse Eltern eindeutig mit Ja beantworten werden. Im Rahmen des Erziehungsrechts der Eltern beantwortet auch der Gesetzgeber diese allgemeine Frage mit Ja. Aber dürfen Eltern im Namen eines wie auch immer gearteten seelischen oder spirituellen Wohls den Körper des Kindes ohne Not irreversibel zeichnen lassen? Denn als sichtbares Zeichen wird die Beschneidung von Jungen von der Religion gefordert (Judentum) bzw. empfohlen (Islam). Wann, unter welchen Umständen und bis zu welchem Grad ist eine Körperverletzung dem Kind zuzumuten, beziehungsweise ab wann ist sie strafbar? Das waren letztlich die juristischen Fragen, denen das Kölner Gericht nachgehen musste.
Grundrechtskonflikt
Mit dem Kölner Prozess wurden in Deutschland erstmals Gerichte damit befasst, den Verdacht auf Körperverletzung durch eine rituelle Beschneidung an männlichen Kindern zu verhandeln. Ihre Aufgabe bestand darin, einen Grundrechtskonflikt zu lösen, in dem, wie es die Formulierung “zum Wohle des Kindes” bereits andeutet, das Kind als eigenständiger Träger von grundsätzlichen und unveräußerlichen Rechten auftritt. Bei der rituellen Beschneidung kollidieren mehrere Grundrechte und ihre jeweiligen Träger miteinander: Auf der einen Seite die Eltern (Recht auf Religionsfreiheit (Artikel 4 Grundgesetz) und Erziehungsrecht (Art. 6,2 GG)). Auf der anderen Seite das Kind selbst mit dem Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit (Art. 2,1 GG), dem Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2,2 GG) und dem Recht auf Religionsfreiheit, weil dieses in erster Linie das Recht des Individuums auf freie Wahl und Ausübung seiner Religion wahren soll. Anders als mitunter angenommen, ist das Recht auf Religionsfreiheit, wie alle anderen Menschenrechte, ein Individualrecht. Kulturelle oder religiöse Kollektive und deren Rechte gelangen erst über das Recht des Einzelnen auf freie Selbstbestimmung in den Fokus menschenrechtlicher Überlegungen.[5] Bei der Beschneidung wird die Zugehörigkeit zu einer Religion am Körper sichtbar gemacht. Selbst wenn das Kind sich später entschließen sollte, die Religion zu wechseln oder abzulegen, könnte es diese Zeichnung nicht mehr ungeschehen machen, ein weiterer Umstand, mit dem sich das Gericht befassen musste. Es stellte sich die Frage, ob eine solche Verletzung nicht über das Recht der Eltern hinausgeht, ihr Kind religiös zu erziehen. Für das Gericht spielt es hierbei keine Rolle, ob der Beschnittene in seinem späteren Leben ein Problem mit der Beschneidung hat oder mit dieser einverstanden ist, weil es die Zukunft nicht voraussagen kann. Das Gericht entschied dementsprechend, dass es den Eltern zumutbar sei, mit der Beschneidung auf die Zustimmungsfähigkeit des Kindes zu warten.
Den Grundrechtskonflikt zu ignorieren, klein zu reden oder wegdiskutieren zu wollen, ist eine gefährliche Negierung der menschenrechtlichen Grundlagen unseres Rechtssystems. Die Kritiker des Kölner Urteils ergreifen meist Partei für die Religionsfreiheit der Eltern und ignorieren die eigenständigen Rechte des Kindes und damit die Tatsache, dass die betroffenen Kinder ebenfalls Menschen mit eigener Persönlichkeit und eigenem Schmerzempfinden sind. Die mitunter ins Feld geführte Harmlosigkeit des Eingriffs (eine “Lappalie”), verfängt nun gerade im aktuellen Fall nicht, da dieser erst dadurch zum Rechtsfall wurde, dass schwere Komplikationen auftraten und sich die Mutter gezwungen sah, die Notaufnahme aufzusuchen. Hier wird die im Namen der Religionsfreiheit verteidigte religiöse Identität der einen zum gesundheitlichen Risiko der anderen. An einem solchen Punkt wird Kultur zur Rechtsfrage.[6]
Wenn Kritikerinnen und Kritiker des Urteils (und im Folgenden sind nicht die Religionsgemeinschaften gemeint) der Ansicht sind, religiöse Riten dürften nicht Gegenstand gerichtlicher Verhandlungen sein, so stellt sich die Frage, wer sonst über ihre Rechtmäßigkeit befinden soll. Religionen selbst können kaum Richter über die gesellschaftliche Zulässigkeit ihrer eigenen Riten und Bräuche sein. Die Kritiker des Kölner Urteils ziehen, ob sie es wollen oder nicht, ebenso wie das Gericht es getan hat, eine Grenze zwischen dem, was im Namen der Religion erlaubt sein soll und was nicht, auch wenn sie sie an einer anderen Stelle ziehen. Die Beschneidung von männlichen Kindern liegt für sie noch innerhalb des Erlaubten, wesentlich invasivere Eingriffe hingegen nicht mehr, auch wenn diese religiös gefordert und legitimiert werden.[7] Es erstaunt, wie schnell sich in einer für die meisten immerhin gänzlich neuen Diskussion ein Urteil über den Eingriff am Körper eines Kindes erlaubt und das Recht auf Religionsfreiheit der Eltern höher bewertet wird als das Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit.
Recht und Unrecht kann nicht nach religiösen Maßstäben bzw. Glaubensdogmen bewertet werden, sondern ausschließlich anhand der in Grundgesetz oder Verfassung festgeschriebenen Menschenrechte. Eine Grundrechtsdemokratie muss darauf bestehen, dass die Menschenrechte die Basis des gesamten Rechtssystems sind, jedes Gesetz und jede Verwaltungshandlung muss sich an ihnen orientieren. Kein Bereich steht außerhalb dieser “objektiven Wertordnung” (BVerfG). An den Menschenrechten muss sich jeder Brauch ausrichten, ihnen muss jede Religion genügen. Ein Beispiel für einen Konflikt zwischen Religionsgemeinschaften und garantierten Menschenrechten ist etwa die Auseinandersetzung zwischen dem Staat und denjenigen christlichen Gemeinschaften, die für sich und ihre Kinder bestimmte medizinische Behandlungen ablehnen und dadurch die Gesundheit ihrer Kinder gefährden. Ein anderes Beispiel ist die Auseinandersetzung um das Recht auf Austritt aus einer Religionsgemeinschaft, das durch die Religionsfreiheit garantiert ist, aber nicht immer selbstverständlich war; erstmals gesetzlich verankert wurde es 1847 in Preußen und galt ab 1871 für das Deutsche Reich. Dort musste es jedoch, wie etwa auch die Zivilehe und die staatliche Schulaufsicht gegen den Widerstand der Kirche durchgesetzt werden. Dass Vertreter von Religionsgemeinschaften die gesetzliche Beschränkung dessen, was sie für ihr gutes Recht halten, in der Regel ablehnen, liegt in der Natur der Sache. Die Forderung, niemand solle sich in religiöse Angelegenheiten einmischen, ist allen Religionsgemeinschaften eigen und deshalb gehörten Vertreter der großen Kirchen zu den Ersten, die das Kölner Urteil kritisierten.
In Köln wurde erstmals in Deutschland ein jüdischer und muslimischer Ritus auf den Prüfstand gestellt. Eine für Deutschland aus historischen Gründen besonders sensible Angelegenheit. Vielleicht zeigt sich darin aber auch eine gewisse gesellschaftliche Normalisierung. Jüdische und muslimische Bürgerinnen und Bürger und deren religiöse Vorstellungen und Belange sind Teil der Gesellschaft und müssen sich an den Kriterien des Rechtsstaats messen lassen. Das wäre jedenfalls auch eine mögliche Lesart des Urteils. In jedem Fall zeigen die Diskussionen in Europa, Amerika und Israel, dass Menschenrechte im Allgemeinen und Kinderrechte im Besonderen seit den 1970er Jahren zunehmend in den Blickpunkt geraten sind.
Jetzt, wo das Thema auf dem Tisch liegt, kann der beschriebene Grundrechtskonflikt nur von einem unabhängigen Gericht entschieden werden. Die Entscheidung über die Zulässigkeit einer rituellen Handlung einer anderen Instanz als einem Gericht zu überlassen, würde in der Konsequenz nichts anderes bedeuten, als die einheitlichen Kriterien der Rechtsprechung aufzugeben; diese sind aber die Grundvoraussetzung eines Staates, der gleiches Recht für alle garantieren soll. Es nicht argumentierbar, dass ein bestimmter Bereich – das Religiöse – außerhalb des Rechts gestellt werden soll. Wenn, wie im vorliegenden Fall, zwei oder mehr Menschenrechte miteinander kollidieren, muss fallbezogen nach dem Prinzip der Praktischen Konkordanz ein möglichst schonender Ausgleich gefunden bzw. entschieden werden, welches der Rechte Vorrang vor dem anderen hat. Vor dieser Aufgabe stand das Kölner Landgericht, das im Urteil seinen Weg der Abwägung der verschiedenen Rechtsgüter sehr genau dokumentiert hat. Dieses Urteil kann selbstverständlich kritisiert werden, aber um eine Abwägung der Rechtsgüter wird am Ende niemand herumkommen. Wer Religionsfreiheit im Falle der Beschneidung von männlichen Kindern privilegiert und der Tradition Vorrang gibt, wird Schwierigkeiten haben, plausibel zu argumentieren, warum z.B. der religiös motivierte Abbruch einer Heilbehandlung oder eine andere religiös motivierte Verletzung der körperlichen Integrität eines Kindes verboten sein soll. Es stellt sich die Frage, ob Religionsfreiheit überhaupt eine Begründung für eine Körperverletzung an einem Kind sein kann. Wird das bejaht, stellt sich die schwierige Folgefrage, bis zu welcher Intensität eine Körperverletzung aus religiösen Gründen erlaubt ist, und es ist zu erwarten, dass die Vertreter der “sanften” Klitorisbeschneidung sofort auf den Plan treten. (siehe hier)
Medizin, Ästhetik, Sex
Den Befürwortern des Kölner Urteils “Penisfixierung” oder “Vorhautfetischismus” vorzuwerfen, mag eine nette Polemik sein, ändert aber nichts an der Tatsache, dass die Argumente der Skeptiker und Kritiker ritueller Beschneidung an Kindern im Kern nicht anders lauten würden, wenn statt der Vorhaut ein Teil des Ohrläppchen entfernt oder eine Tätowierung als Zeichen religiöser Zugehörigkeit vorgenommen würde. Es ist nun einmal die Vorhaut, um die es hier geht. Kulturgeschichtlich gesehen stellt sich allerdings die Frage, warum Religionen – jedenfalls die monotheistischen – es so sehr mit der Sexualität und den Geschlechtsteilen haben. Beschneidungen von Geschlechtsteilen scheinen in der Tat eine gewisse Fixierung auszudrücken. In diesem Zusammenhang ist die Genese der Beschneidungsrate in den USA nicht uninteressant. Sie geht auf religiöse puritanische Wahnvorstellungen von Masturbation zurück. Der Schweizer Arzt Samuel Auguste Tissot warnte 1758 vor den negativen Folgen der Masturbation und empfahl als probates Gegenmittel die Beschneidung der Vorhaut vor Erlangen der Geschlechtsreife. Dieser Ansatz wurde im 19. Jahrhundert in den USA aufgegriffen und in medizinischen Fachblättern lebhaft diskutiert: „In Fällen von Masturbation müssen wir“, so etwa der Arzt Athol A. W. Johnson 1860, „diese Gewohnheit damit brechen, indem wir die Geschlechtsteile in einen solchen Zustand versetzen, in welchem sie zu große örtliche Schmerzen bereiten, als dass sie ermöglichten, dass diese Praktik weiterbetrieben wird. Zu diesem Zwecke, wenn die Vorhaut lang ist, können wir den männlichen Patienten mit gegenwärtigem und wahrscheinlich zukünftigem Nutzeffekt beschneiden; Auch die Operation selbst sollte nicht unter Chloroform ausgeführt werden, sodass der erlittene Schmerz, mit der Gewohnheit, die wir auszumerzen wünschen, assoziiert wird.“ (dieses und weitere Zitate hier) Erst in den 1910er Jahren treten hygienische Argumente hinzu, ohne jedoch das alte Motiv der Masturbationsverhinderung zu verdrängen. Anfang der 1970er Jahre (bei einer Beschneidungsrate von mittlerweile 90%) kommt Kritik an der Praxis der routinemäßigen Beschneidung von Kindern auf. Seither ist die Rate rückläufig und spätestens seit den 1990er Jahren werden zudem Schmerzen und Traumata der betroffenen Kinder in Fachkreisen diskutiert.
Medizinische (Beschneidung verhindert Krankheiten), ästhetische (beschnitten ist schöner) oder erotische (Sex ist beschnitten besser) Gründe für eine Beschneidung von männlichen Kindern vorzubringen, ändert weder etwas an der grundsätzlichen Frage des Schutzes des Rechtes auf körperliche Unversehrtheit eines unmündigen Kindes, noch an der Frage, wie weit Religionsfreiheit gehen darf. Hinzu kommt, dass alle diese rationalisierenden Begründungen durchaus kontrovers diskutiert werden. Die WHO etwa, die in den Debatten der letzten Wochen häufig als Kronzeugin dafür genannt wird, dass Beschneidungen medizinisch sinnvoll seien, empfahl diese im Jahr 2007 ausschließlich als zusätzliche Maßnahme im Kampf gegen AIDS in Ländern mit hohen HIV-Infektionsraten. Die Erklärung ist in voller Länge im Internet zu lesen. In ihr wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Beschneidung unter strikter Beachtung der medizinischen Ethik und der Menschenrechten zu erfolgen habe. Dazu gehöre die bewusste Zustimmung der Betroffenen nach ausreichender Information und die Abwesenheit von Zwang (“Countries should ensure that male circumcision is provided with full adherence to medical ethics and human rights principles, including informed consent, confidentiality, and absence of coercion.“). Nirgends – und hier kommen wir zum Kern der Sache – empfiehlt die WHO eine Beschneidung von Säuglingen oder Kindern, schon gar nicht weltweit und zur Prävention. Wer auch immer die WHO für die Beschneidung von männlichen Kindern ins Feld führt, hat sich schlecht informiert oder verfolgt eigene Interessen. Auch die Abwehr anderer Krankheiten ist zumindest umstritten. Studien, die einen positiven Effekt der Beschneidung auf die Abwehr weiterer Krankheiten festgestellt haben (etwa Gebährmutterhalskrebs), wurde durch andere Studien heftig widersprochen. Als Laie ist es kaum möglich, sich in dieser Frage ein Urteil zu bilden, weil der medizinische Nutzen in Fachkreisen bis heute ein sehr umstrittenes Thema ist.
Die Ästhetik eines Körperteils wiederum liegt allein im Auge des Betrachters, ebenso wie die Qualität des Sex dem erotischen Geschmack und den Vorlieben der Beteiligten obliegt. Beide Argumente beschreiben subjektive Wahrnehmungen und nicht objektive Tatsachen. Und: Wir sprechen hier über Kinder! Für diese haben Argumente, die auf die Prävention von Geschlechtskrankheiten, auf Erotik oder Ästhetik abzielen, keinerlei Relevanz. Mit anderen Worten: Das ist eine Erwachsenendiskussion. Aus all den erwähnten Gründen kann sich ein Erwachsener nach Belieben für eine Beschneidung entscheiden, ohne dass ein Hahn danach kräht.
Im vorliegenden Fall des muslimischen Knaben wurde die Beschneidung ohnehin nicht irgendwelcher materialistischer Gründe wegen vorgenommen; die Rationalisierung des Ritus verkennt bewusst oder unbewusst seinen Sinn. Dieser besteht darin, Gott zu gefallen und seine Gebote zu befolgen. Das haben vor allem orthodoxe Rabbiner inzwischen in zahlreichen Interviews und Stellungnahmen immer wieder klargestellt. Alle rationalen Gründe sind demgegenüber bestenfalls zweitrangig.
Fazit
In der Sache selbst ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Das Kölner Urteil ist zunächst ein Einzelurteil eines deutschen Gerichtsbezirks. Es hat keine bindende Wirkung für irgendein anderes Gericht außerhalb dieses Bezirks. Das Urteil wird allerdings insofern richtungsweisend sein, als sich ein anderes Gericht, sollte es mit einem ähnlichen Fall konfrontiert werden, die Kölner Begründung genau ansehen wird. Das muss nicht heißen, dass es dieser auch folgt. Gegensätzliche Urteile sind durchaus vorstellbar und die Rechtsprechung könnte – anlog zu anderen Beispielen – nur durch das Verfassungsgericht vereinheitlicht werden. Ein Gesetz, das die rituelle Beschneidung ausdrücklich erlauben würde, wie es zur Zeit im deutschen Parlament angedacht wird, wäre vermutlich entweder verfassungswidrig oder unnötig. Die Justizministerin hat in ihrer ersten Reaktion auf den Ruf religiöser Verbände nach einem Gesetz dementsprechend voraussehend die Verbände aufgefordert, einen Fall bis zum Verfassungsgericht durchzustreiten, um auf diesem Weg Rechtssicherheit zu erlangen. Sollte das Verfassungsgericht sich der Kölner Begründung anschließen und durch die rituelle Beschneidung die Menschenrechte von Kindern verletzt sehen, könnte daran auch ein Gesetz nichts ändern – es wäre dann nämlich verfassungswidrig. Im schlimmsten Fall könnte ein nach Inkrafttreten des Gesetzes Beschnittener später, im Erwachsenenalter, den Staat auf Schadensersatz verklagen. Sollte das Verfassungsgericht die Kölner Begründung zugunsten der Religionsfreiheit der Eltern verwerfen und damit die Beschneidung für legal erklären, wäre ein Erlaubnisgesetz wiederum unnötig. Dann wäre allenfalls zu überlegen, die Beschneidung, wie etwa in Schweden, rechtlich zu reglementieren, um sicher zu stellen, dass sie in möglichst jedem einzelnen Fall unter besten medizinischen Bedingungen abläuft. Zudem wird es schwierig sein, ein Gesetz so zu formulieren, dass es einen chirurgischen Eingriff aus religiösen Gründen bei männlichen Kindern erlaubt, bei weiblichen hingegen verbietet. Ein geschlechtsspezifisches Gesetz wäre vermutlich ein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz in der Verfassung (Art. 3 GG). Das birgt die Gefahr in sich, dass die Beschneidung von Mädchen ebenfalls wieder zur Debatte steht; zumindest die Vertreter der sogenannten „sanften Beschneidung“, bei der “nur” die Klitorisvorhaut entfernt wird, werden nachzuweisen versuchen, dass dieser Eingriff genauso “harmlos” ist, wie die Beschneidung der Vorhaut.
Es ist davon auszugehen, dass das Kölner Urteil nicht das letzte in dieser Frage gewesen sein wird und es wäre im Interesse aller, dass möglichst bald ein Fall bis vor das Bundesverfassungsgericht und eventuell bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte getragen wird. Das Vorhaben einer „Lex Beschneidung“ wirkt dagegen ein wenig wie politischer Aktivismus aus Hilflosigkeit.
Die Autorin und der Autor dieses Beitrags halten das Kölner Urteil für richtig; das Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit scheint Ihnen gewichtiger als das Recht einer Religionsgemeinschaft auf die Durchführung ihrer Rituale. Das Kölner Urteil ist auch Ausdruck einer gesellschaftlichen und rechtlichen Entwicklung, das Individuum in seinen Rechten gegenüber jedem Kollektiv zu stärken, eine Entwicklung die erst vor gar nicht allzu langer Zeit auch Kinder als eigenständige und mit Rechten ausgestattete Persönlichkeiten überhaupt erfasst hat. Noch vor wenigen Jahrzehnten wurde – heute kaum noch vorstellbar – die körperliche Züchtigung in Elternhaus und Schule als Erziehungsmittel allgemein gut geheißen. Das jetzt die Frage gestellt wird, inwieweit eine rituelle Beschneidung unzulässig in die Rechte des Kindes eingreift, ist gesellschaftlichen Emanzipationsprozessen geschuldet, die Gesellschaften stets verändern und damit auch ihre Auffassungen von Recht und Unrecht. Es kann allerdings nicht darum gehen, einen jüdischen und muslimischen Brauch als blutig und archaisch zu denunzieren und damit Juden und Muslime zu diffamieren, sondern ein Bewusstsein dafür zu schaffen, wie sich das Rechtsbewusstsein von Gesellschaften ändert. Seit dem Zeitpunkt, als erstmals Menschenrechte als Individualrechte in positives Recht transformiert wurden, entwickelten sie eine Eigendynamik, die sowohl die Gruppe jener stetig vergrößerte, die in den Genuss dieser Rechte kamen, als auch deren Anspruch auf Souveränität gegenüber staatlicher und religiöser Herrschaft. Vieles, was einst als Recht galt, wurde in diesem Prozess in Frage gestellt und schließlich ins Unrecht gesetzt (traditionelle gesellschaftliche Hierarchien, Geschlechterungleichheit, Knechtschaft, Körperstrafen, etc.) und es war nicht zu erwarten, dass diese Entwicklung vor irgendeinem Brauch Halt machen würde.
Die Autoren sind sich jedoch des Dilemmas bewusst, dass das Kölner Urteil auslöst. Einerseits ist es Religionsgemeinschaften zuzumuten, althergebrachte Bräuche und Riten zu überdenken; das Alter allein ist jedenfalls kein Argument für deren Zulässigkeit. Andererseits sind Umwandlung, Erneuerung oder Infragestellung von Bräuchen keine ad-hoc Aktionen, die durch ein Gerichtsurteil erreicht werden könnten. Vielmehr ist hier ein langer Umdenkprozess innerhalb der Religionsgemeinschaften nötig, der sowohl von innen als auch von außen immer wieder Impulse erhalten wird. Das bereits gefällte Urteil auf der einen und die Beharrlichkeit religiöser Bräuche auf der anderen Seite passen leider nicht zusammen und ein Ausweg aus diesem Dilemma ist im Moment nur schwer vorstellbar. Aber die gesellschaftliche Debatte hat auch gerade erst begonnen.
Nina Scholz, Politikwissenschaftlerin
Heiko Heinisch, Historiker
[1] Die strafrechtliche Relevanz der Beschneidung von Knaben. Zugleich ein Beitrag über die Grenzen der Einwilligung in Fällen der Personensorge. In: Festschrift für Rolf Dietrich Herzberg, Tübingen 2008, S. 669-709
[2] European Journal of Pediatric Surgery 4/2008, S. 289
[3] siehe auch: Ahmad Mansour, Muslime müssen endlich offener diskutieren, in: weltonline.
[4] Jürgen Kaube, Beschneidung, in: FAS v. 1. Juli 2012, S. 10
[5] Heiner Bielefeldt, Menschenrechte in der Einwanderungsgesellschaft. Plädoyer für einen aufgeklärten Multikulturalismus, Bielefeld 2007, S. 66.
[6] Jürgen Kaube, Beschneidung, in: FAS v. 1. Juli 2012, S. 10
[7] Auch die Klitorisbeschneidung etwa ist in Teilen Afrikas ein religiös legitimierter Brauch, der zum Teil auch von afrikanischen islamischen Communities in Europa gefordert wird. Es gibt islamische Rechtsgelehrte, die diesen Brauch unterstützen, während er von anderen abgelehnt wird. Der einflussreiche Gelehrte und Fernsehprediger auf al-Dschasira, Yusuf al-Qaradawi aus Katar, hat noch bis 2008 in einer Fatwa die Meinung vertreten, die sogenannte milde/leichte „Mädchenbeschneidung“ sei vom Propheten empfohlen.
Ich war anfangs etwas gespaltener Meinung und dachte, dass Beschneidungen von Jungen stattfinden können dürfen, wenn es doch so Brauch und Tradition ist. Und, dass man den Jungs, wenn sie nicht beschnitten sind, keinen Gefallen erweist, wenn sie sich außerhalb dieserTradition bewegen. Dann fragte ich mich, warum ich denn so wehemend gegen die Beschneidung von Mädchen bin, die in ihrer Auswirkung zwar viel fürchterlicher ist aber auch aus religiösen und traditionellen Gründen vorgenommen wird. Ja und dann wird es natürlich ganz schräg, wenn ich religiöse Gründe vor den Menschenrechten gelten lassen würde. Schließlich werden heute ja auch keine Frauen oder Männer mehr als Hexen verbrannt, weil sie als Heilpraktiker arbeiten, sich Frauen dazu entscheiden die Schwangerschaft abzubrechen oder sich scheiden zu lassen. Jede Veränderung die religiöse Traditionen gebrochen hat, wurde mit einem Aufschrei der jeweiligen Gemeinschaft begleitet und dauerte ewig, bis sie in der letzten Hütte angekommen war. Ich pflichte Eurem Beitrag also vollständig bei! Auch die Ausführung zu den ästhetischen und erotisch/sexuellen Gründen einer Beschneidung sind gut dargestellt, da sie für Kinder gar keine Rolle spielen und ich es mehr als fragwürdig finde, wenn diese herangezogen werden.
Die Meinungen in der Presse gehen ja auch weit auseinander. Im Tagesspiegel vom Sonntag(22.7.) schreibt Harald Martenstein unter der Überschrift “Ich verstehe das Problem nicht” einen ganz unreflektierten Beitrag. So in dem Sinne, dass man wegen einem”so kleinen Eingriff” ja nicht zwei Weltreligionen in die Illegalität treiben könne, und dass es ja nicht um Menschenopfer, Handabhacken oder Steinigungen ginge. Und da frage ich mich schon, wo Menchenrechte anfangen und ob nur große und grobe Verletzungen des Menschenrechts in Frage gestellt werden dürfen und wer entscheidet was groß und was minimal ist.
Am Freitag kam auf ARD in den Tagesthemen ein sehr guter Kommentar einer Frau, deren Namen ich leider nicht behalten habe. Sie sagte sinngemäß, dass das Menschenrecht und die Freiheit das größte Gut sind, was Menschen haben. Die Freiheit sich zu entscheiden, ob man sich für eine Relegion entscheidet oder wieder abwendet, wenn man es will, sich zu entscheiden, ob man sich beschneiden lässt, wenn man es will, sich Traditionen zuwendet, wenn man es will. Und nicht, weil eine Relegion oder eine Tradition, ein Brauch oder werweißwas, es so vorschreiben.
Dem ist Nichts hinzuzufügen.
Nachdem ich diese Debatte nun seit etwa 4 Wochen verfolge und mich auch diverse Male beteiligt habe, wundere ich mich in zunehmendem Maße, wie hoch die emotionalen Wogen dort schlagen und wie unsachlich dabei oft argumentiert wird. Deshalb bin ich umso dankbarer, dass Sie mit Ihrem ausgezeichnet recherchierten und umfassend aufgebauten Beitrag so gut zur Versachlichung beitragen.
“Dadurch ist nun eine Situation entstanden, durch die jeder Arzt, der eine rituelle Beschneidung an einem Kind vornimmt, vom Strafbestand der Körperverletzung bedroht ist und keinen “Verbotsirrtum” mehr geltend machen kann.” heisst es im Text. Das dürfte falsch sein, denn das LG Köln hat ausdrücklich festgehalten, dass auch die gegenteilige Meinung immer noch gut vertretbar ist. Das zeigt vor allem auch, wie unausgegoren und wenig durchdacht das Urteil ist, was umso bedauerlicher ist, da sich von der Arroganz der Kölner Richter so viele beeindrucken lassen. “Great cases like hard cases make bad law. For great cases are called great, not by reason of their importance… but because of some accident of immediate overwhelming interest which appeals to the feelings and distorts the judgment.”
Ich danke Ihnen nochmals für den zutreffenden Hinweis in meinem Blog, betreffend die Einschätzung der Rechtslage in Deutschland und gratuliere Ihnen (beiden) zu dem ausgezeichneten Artikel. Nirgends sonst konnte ich besser recherchierte Fakten zu dem Thema lesen. Respekt!
Mit freundlichen Grüßen
WS
Sehr geehrter Herr Historiker, ohne auf die Debatte einzugehen, entdecke ich bei Ihnen einige formale Fehler und Probleme in Ihrer Argumentationslinie:
1) Unten beziehen Sie Partei, indem Sie das Urteil für richtig halten, sodass ich leicht zum Schluss komme, dass dies keine historisch-wissenschaftliche Abhandlung bemüht um Neutralität ist, sondern Werbung für eine Position. In dem Fall hätten Sie sich als “Privatperson” und nicht als Historiker bezeichnen sollen.
2) Sie schreiben “wird das Thema seit einigen Jahren verstärkt öffentlich diskutiert”. Als Beleg dafür bringen Sie nur sie einen Zeitungsartikel aus dem Jahr 2006. Das klingt nicht sehr überzeugend, allein einen Artikel zu bringen, der schon 6 Jahre alt ist. Das ist für mich noch keine “öffentliche Diskussion”.
3) In dem Artikel gibt es in der Tat ein “Umfrageergebnis”.Sie haben jedoch unterschlagen, dass da im Hebräischen Original ausdrücklich steht, es handle sich um eine “informelle” Umfrage im Internet. Also keine nach wissenschaftlichen Kriterien ausgeführte Umfrage. Sie wissen sicherlich, dass die Fehlerquote bei offiziellen Umfragen etwa bei 3 Prozent liegt. Die 1-2 Prozent Gegner sind also eine Nichtige, durch eine Umfrage nicht zu ermittelnde Größe.
4) Wenn Sie tatsächlich Historiker sind, hätte ich wenigstens erwartet, dass Sie auf drei historische Fälle eines Beschneidungsverbots eingehen, unter den Griechen, den Römern und zuletzt unter den Sowjets. In allen drei Fällen war die Absicht, das Judentum abzuschaffen. Das ist ein Element, das in einer ernsthaften Abhandlung zu dem Thema wenigstens erwähnt werden sollte.
5) Ungeachtet der Frage, ob man für oder gegen Religionen und Kulte ist, sollten Sie wissen, dass es gewisse Dinge gibt, die für die Religionen, und im Fall der Juden sogar für die Existenz dieses Volkes, eine entscheidende Rolle spielen. Dem Christentum die Taufe zu verbieten, käme einem Verbot des Christentums gleich. Das Verbot in Saudi Arabien, Gottesdienste abzuhalten, kommt einem Verbot des Christentums gleich. Wahrscheinlich würden Sie dagegen halten, dass doch viele Christen ohnhin nicht in die Kirche gehen, also wäre das nicht schlimm. Meines Wissens gehört die Beschneidung zu den Kernpunkten der Existenz und des Selbstverständnisses des Judentums und das zu verbieten kommt einem Versuch gleich, mal wieder das Judentum abzuschaffen. Dass Deutsche oder auch Östereicher sich knapp 60 Jahre nach der Schoah an einem solchen Unterfangen mal wieder aktiv beteiligen, halte ich für eine Ungeheuerlichkeit, auch wenn das zu “Wohl der Kinder” sein soll. Solange ein jüdisches Kind, sogar in Deutschland und Österreich nicht seines Lebens sicher sein kann (siehe Toulouse und den Polizeischutz vor jüdischen Einrichtungen) ist es nicht unsere Aufgabe, uns um das Wohl der Vorhaut jenes jüdischen Kindes Sorgen zu machen.
Sehr geehrter Herr Sahm,
bei unserem Beitrag handelt es sich nicht um eine, um Neutralität bemühte, historisch-wissenschaftliche Abhandlung, sondern schlicht um einen Blogbeitrag, der unsere persönliche Meinung zum Ausdruck bringt, die wir bereits in der Einleitung benennen. Die Intention bestand in erster Linie darin, der Debatte etwas von ihrer Schärfe und Aufgeregtheit zu nehmen und zu zeigen, dass der Zusammenhang zwischen der Beschneidung von Kindern und deren Rechten durchaus wert ist, diskutiert zu werden. Es sei Ihnen unbenommen, die aktuelle Debatte als „eine Ungeheuerlichkeit“ abzuqualifizieren und vergangenes Unrecht in die Waagschale zu werfen, aber am Kern der Problematik zielen Sie damit, wie ich glaube, vorbei.
Zu Ihrem zweiten Punkt: Mit Ha‘aretz wurde die Kontroverse in Israel vor 6 Jahren immerhin von einer der bekanntesten israelischen Zeitungen aufgegriffen, aber es hatte bereits vorher (und auch danach) mehrere Klagen vor dem Obersten Gerichtshof Israels gegen die Praxis der Beschneidung von Kindern gegeben, die allerdings alle abgewiesen wurden. Infos dazu finden Sie unter anderem hier. Ha’aretz hat am 14. Juni dieses Jahres neuerlich einen Artikel zur Beschneidung unter dem Titel Even in Israel, more and more parents choose not to circumcise their sons veröffentlicht. Eine persönliche Beschreibung über innerfamiliäre Auseinandersetzungen und Konflikte gibt der israelische Arzt und Journalist Gil Yaron.
Sie haben sicher Recht, wenn Sie feststellen, dass es sich hierbei um Minderheitenpositionen handelt. Diese Tatsache schmälert meines Erachtens jedoch nicht ihren Wert, werden doch Veränderungen häufig zunächst von wenigen in Gang gesetzt.
Das Dilemma, in das wir uns mit unserer Position begeben, ist uns, wie im Artikel erwähnt, durchaus bewusst. Eine Lösung des Grundrechtskonflikts, die eine große Gruppe der Gesellschaft ins Unrecht setzen würde, ist kaum gesellschaftsverträglich, eine dauerhafte Missachtung der Rechte der Kinder scheint aber auch keine gute Lösung zu sein. Es bedarf einer sorgsamen Abwägung, zwischen beiden. Jeder Beitrag, der sich dem Grundrechtskonflikt und der notwendigen Abwägung der involvierten Rechte stellt, ist daher zu begrüßen. Exemplarisch seien hier der jüngste Beitrag Patrik Bahners auf der einen und Memet Kılıç‘ auf der anderen Seite genannt.
Ein höchstnotwendiger Artikel,
denn er stellt das Erziehungsrecht auf den Prüfstand.
Gibt das Erziehungsrecht den Eltern das Recht,
ihrem Kinde ohne Not eine Zehe abschneiden zu lassen.
Ich meine: nein.
So, wenn die Zehe nicht, dann die Vorhaut schon gar nicht.
Das Wegschneiden der Vorhaut ist ein
Einschnitt in den empfindlichsten Teil des Menschen,
nämlich seine Sexualität, und das körperlich, seelisch und geistig,
siehe
http://www.beschneidung-von-jungen.de/home/betroffene/beschneidungsbetroffene/nur-eine-ganz-normale-beschneidung.html
Meiner Meinung nach gehört das Wegschneiden der Vorhaut verboten,
ausgenommen es liegt ein schwerwiegender gesundheitlicher Grund vor.
Wenn eine Religion das Wegschneiden eines Körperteils bei Kindern fordert,
so gehört diese Religion auf den Prüfstand, siehe
http://members.aon.at/goedheinz/GOD_Deutsch/Zukunft/2069FaqD/2069FaqD_Erzieh.html#Religion
Religionen und religiöse Riten sind Erfindungen des Menschen,
sie können daher jederzeit auf den Prüfstand gestellt werden,
auch wenn – oder gerade wenn – sie mehrere tausend Jahre alt sind.
In meinem Beitrag vom 8. August 2012 trete ich für ein
‘Verbot der Beschneidung von Kindern’ ein.
Ich habe dabei einen Einwand übersehen:
Bei einem Verbot könnten sehr religiöse Eltern
ihre Kinder im Hinterzimmer von einem Quacksalber beschneiden lassen –
was für die Kinder möglicherweise noch schlimmer wäre.
Als möglichen Ausweg ist mir bis jetzt nur eine
‘mittelalterliche’ Idee eingefallen.
Neben dem Verbot noch die Möglichkeit eines
“Gottes-Gerichtes” –
– ein “Gottes-Gericht” können religiöse Menschen ja kaum ablehnen -:
z.B. der Vater würfelt mit einem gezinkten Würfel,
bei 1 wird das Kind beschnitten, sonst nicht.
Der Würfel ist so gezinkt, dass 1 nicht möglich ist – einen religiösen Menschen dürfte das nicht stören, denn für Gott ist ja nichts unmöglich.
Ich bin mir zu 99.99% sicher, dass dann kein Kind
beschnitten wird und die religiösen Eltern können sich und den anderen sagen, dass Gott es so gewollt hat.
Das ganze könnte so ablaufen wie früher der “Eid vor dem Kruzifix”.
Verrückt ? Ja, aber das wird man, wenn man eine Lösung für religiöse Taditionen sucht.
Besser wäre natürlich, wenn die religiösen Führer überzeugt werden könnten, von der Beschneidung der Kinder abzurücken,
aber das ist wahrscheinlich nicht möglich.
Zur Veranschaulichung, wovon wir reden:
http://postimage.org/image/q93pjmu0h/
Vorsicht! Die Bilder sind nicht für jedermenschs Magen.
Herzlichen Dank für den überlegten und ausgewogenen Beitrag zum Thema. Ich muss zugeben, dass ich über das Kölner Urteil zunächst Schmunzeln musste. Wie können deutsche Richter eine derart fest verwurzelte religiöse Praxis verbieten? Aber bei genauerer Betrachtung und einer tiefer gehenden Beschäftigung mit dem Thema kam die Frage auf, wie hätten sie das Wohl des Kindes einfaches ignorieren können. Das Urteil regt eine gesellschaftliche Diskussion an, die durchaus sinnvoll ist und es wäre wünschenswert, wenn diese ohne Vorurteil geführt werden könnte. Wer Beschneidung ablehnt ist deswegen weder Antisemit noch Islam-Ablehner. Wer Beschneidung befürwortet nicht religiös verbrämt. Aber es geht tatsächlich auch um mehr als ‘nur’ um ein kleines Stückchen Haut am männlichen (oder auch weiblichen) Genital. Körperliche Unversehrtheit und religiöse Selbstbestimmung des Kindes gegenüber den Erziehungsrechten der Eltern und dem Recht auf freie Religionsausübung – die Abwägung der Rechte sollte vielleicht wirklich im breiten gesellschaftlichen Diskurs erfolgen – oder ist höchstrichterlich zu entscheiden.
Als kleiner Wegweiser durch den Gesetzes-Dschungel die Artikel von RA Heinrich Schmitz zum Kölner Urteil:
http://wallasch.twoday.net/stories/schnipp-schnapp-vorhaut-ab-von-ra-heinrich-schmitz/
http://wallasch.twoday.net/stories/die-resoutionaere-des-schnipp-schnapp-von-ra-heinrich-schmidt/
http://wallasch.twoday.net/stories/schnipp-schnapp-beschneidung-der-religionsfreiheit/