Im Jahr 2008 startete der damals 18 jährige Marokkaner Kacem El Ghazzali einen Blog. Er glaubte nicht an Gott und hatte in seinem Berber-Dorf in Marokko niemanden, dem er sich mitteilen, mit dem er seine Gedanken und Ideen besprechen konnte, also wollte er sie anonym der Welt mitteilen. Doch schon bald wurde er enttarnt und erhielt fortan Morddrohungen. In seiner Verzweiflung wandte er sich an die Medien und gab im Oktober 2010 einem arabisch-sprachigen französischen Fernsehsender ein Interview. Daraufhin wurde er im Dorf isoliert, „Freunde“ begleiteten ihn nicht mehr zur Schule und niemand kam ihn mehr besuchen. Selbst Teile seiner Familie stellten sich gegen ihn – niemand im Dorf konnte oder wollte ihn, den Atheisten, verstehen. Die Todesdrohungen nahmen weiter zu, in der Schule wurde er vom Direktor zusammengeschlagen und von Mitschülern mit Steinen beworfen. Der Imam des Dorfes warnte die Gläubigen vor Kacem El Ghazzali und selbst in Marrakesch verurteilten ihn Imame in ihren Predigten. Er flüchtete daraufhin aus dem Dorf, tauchte in Städten unter und bat schließlich in der Schweizer Botschaft um Hilfe. Mit einem Visum konnte er im März 2011 in die Schweiz fliegen, wo sein Asylverfahren z.Z. bearbeitet wird. (Siehe)
Aber selbst in der Schweiz erhält er immer wieder unverhohlene Drohungen von dort lebenden Muslimen. In einem aktuellen Interview in der Schweizer Zeitung Der Landbote beklagt Kacem El Ghazzali, dass die Anliegen säkularer oder atheistischer Muslime auch von internationalen Menschenrechtsorganisationen nicht zu Kenntnis genommen werden: „Amnesty International oder Human Rights Watch ignorieren unsere Situation, weil sie den Vorwurf der Islamophobie und des Rassismus fürchten.“ Vermutlich ist es für diese Organisationen wie auch für viele andere Gutmeinende verstörend, dass Menschenrechtsverstöße, dass Diskriminierung und Verfolgung in diesen Fällen nicht unbedingt und nicht in erster Linie von Regierungen und Sicherheitsapparaten ausgehen, sondern von einer Mehrheit der Bevölkerung. „Wieso muss man um sein Leben fürchten, wenn man ein anderes Leben führen möchte?“, fragt Kacem El Ghazzali. (Der Landbote)
Über seine Heimat Marokko sagt er etwas, das vermutlich auf die meisten islamischen Staaten zutrifft: „Es war eine Art Schock für die Marokkaner, zu erfahren, dass es in ihrem Land Atheisten gibt, die sich öffentlich dazu bekennen.“ In vielen islamischen Staaten werden Angehörige anderer als der herrschenden Glaubensrichtung oft genug staatlich, vor allem aber auch gesellschaftlich diskriminiert. Einen Glaubenswechsel vom Islam weg oder gar das Bekenntnis nicht zu glauben kann die/der Einzelne meist nur unter Gefahr für Leib und Leben riskieren – die meisten wagen es erst gar nicht, einen solchen Schritt öffentlich zu machen. Daran hat sich auch durch die Umstürze in einigen arabischen Staaten nichts geändert.
Das Recht des oder der Einzelnen auf Religionsfreiheit – und das impliziert das Recht, frei von Religion zu leben – ist ein Menschenrecht. Solange dieses Recht (und damit die Menschenrechte an sich) von großen Teilen der muslimischen Bevölkerung nicht geachtet wird, wird es in den betroffenen islamischen Staaten weder individuelle Freiheit noch eine Demokratie geben, die über eine Tyrannei der Mehrheit hinausgeht – und damit auch keine pluralistischen Gesellschaften.